Geschichten1

 

Teil I

 

Prolog

Ein Landstrich von herber Schönheit: Hügelig, waldreich, windreich und recht feucht. In den Wintern konnte er ziemlich kalt und schneereich sein, mit meterhohen Schneewehen. Zu dieser Zeit war es schwer durchzukommen. Seit Jahrhunderten ist diese Region Durchgangsgebiet für Hunnen und marodierende, schwedische Söldnertrupps und Kaiserliche, die ganze Dörfer in Schutt und Asche legten. Aber auch Händler, Wanderjuden, „Zigeuner“, die die Verbindung zu anderen europäischen Gebieten aufrechterhielten durchzogen das Fleckchen Erde.
Mitten darin eine Kleinstadt - bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Ackerbürgerstadt - das Bild beherrscht von einem mächtigen Wehrturm, der für Herannahende schon weithin sichtbar ist. Hier spielten sich folgende Begebenheiten in der Hauptsache ab:

 

1. Gefangenenzug

Die Großmutter erzählte der noch nicht neunjährigen Enkelin eine Menge vom Krieg und aus der NS-Zeit, dem so genannten „1000-jährigen Reich“: Gefangene wurden durch die Straßen der Kleinstadt zu ihren Einsätzen getrieben. Armselige, ausgemergelte, zerlumpte Gestalten schlurften durch die Straßen der Stadt, müde, sehr müde. Einige waren barfüßig oder ihre Füße waren mit Lumpen umwickelt oder sie trugen sehr kaputte Schuhe. Von weitem hörte man schon das Geschlurfe, bevor diese Menschen herannahten. Sie wurden von ihren Bewachern immer wieder getrieben, manchmal sogar feste geschlagen. Manche der Gefangenen schauten bettelnd bzw. flehend, mit traurigem Blick aus teils trüben Augen - in tiefen Augenhöhlen liegend - die Passanten an. Die meisten von ihnen aber hielten den Blick gesenkt bei ihrem schleppenden Zug durch die Innenstadt. Die Bürger huschten vorbei, es war nämlich der Bevölkerung strengstens verboten, Mitleid mit den armen Gestalten zu zeigen. Die Nazis konnten sehr brutal werden, auch gegen die eigenen Leute. Solch ein Trupp wurde manchmal auch durch die Marktstraße getrieben. Wenn Frau S. oder Oma ihn schon heran nahen hörten, schmierten sie schnell ein paar Butterbrote oder holten gekochte Kartoffeln, Möhren und/oder Rüben aus dem großen Kochkessel, der in der Waschküche stand und in dem für die Schweine gekocht wurde. Sie wickelten das, was sie so hatten, in Zeitungspapier o. ä. ein. Eine der beiden Frauen passte auf, dass sie kein Gefangenenaufseher sehen konnte oder gar erwischte, die andere steckte das Bündel oder mehrere den Gefangenen zu. Nur ein kurzer Dank, manchmal nur ein schüchterner Blick. Das alles musste äußerst heimlich geschehen, denn diese Menschen galten als „Untermenschen“. Betroffenheit oder Mitleid mit ihnen zu zeigen oder diesen Menschen gar aktiv zu helfen, wurde drastisch bestraft. - Oma zeigte sich bei diesen Erzählungen noch nach Jahren tief betroffen.

Zwangsarbeiter wurden in Fabriken und diversen Steinbrüchen eingesetzt. Sie arbeiteten aber auch bei den Bauern auf den Feldern, im Haus und Stall und waren für die sehr schweren Arbeiten in den städtischen und kirchlichen Wäldern eingeteilt.
23.01.2021 p

 

2. „Gelobt sei Jesus Christus“

Diese Geschichte konnte die Enkelin nicht vergessen:
In der Nachbarschaft war eine sehr gute Metzgerei. Die Großeltern konnten sich kaum etwas leisten. Doch einmal in der Woche gab es Fleisch, meistens vom Kalb, weil die Oma das am besten vertrug. Also ging Oma wieder einmal zur Metzgerei, um für den Sonntagsbraten ein bisschen Kalbfleisch - „ein Drei Viertel Pfündchen“ - zu kaufen. Sie wurde von der Metzgersfrau sehr gut bedient. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein Uniformierter trat polternd ein. Erhob den rechten Arm zum Hitlergrüß und brüllte „Heil Hitler“. Oma entgegnete: „Gelobt sei Jesus Christus“. Alle Drei standen wie erstarrt da. Dann verließ der Mann wortlos den Verkaufsraum. Die Frau hinter der Theke murmelte leise: „Der war schon oft hier, der kommt bald wieder.“ Sie zitterte am ganzen Leib.

Es war einige Zeit vergangen und Oma betrat wieder einmal den Metzgersladen. Die Metzgersfrau hinter der Theke hatte ein stark verweintes Gesicht und wischte Tränen weg. Der Oma entging das nicht und sie fragte sogleich nach dem Grund. Unter starkem Schluchzen erklärte die Frau, dass ihre Kinder „wegen der unsicheren Zeiten“ am Morgen ihre weite Reise nach Amerika angetreten haben. Und dass sie glaube, dass das ein Abschied für immer gewesen sei und sie die Kinder nicht mehr wieder sehen werde.

Wieder einige Zeit später waren neue Leute Besitzer dieser Metzgerei.
28.01.2021 p

 

3. Agnes - von drei Geburten überlebt ein Kind

3.1 Geburten
Eine mittdreißig-jährige, verheiratete Frau - nennen wir sie Agnes - wurde als hochschwangere Frau aus dem „Kohlenpott“ evakuiert. Sie konnte mit dem Zug relativ komfortabel in einem „Abteil für Mutter und Kind“, Richtung Süden zu ihren Eltern reisen.
Dort kam sie bald nach ihrer Ankunft im Hochsommer 1943 in der elterlichen „Notwohnung“ in der Marktstraße, nieder. Es war ein Mädchen. Die Gebärende wollte um nichts in der Welt in ein Krankenhaus gehen, denn sie sah eine Geburt als etwas Normales an und wollte auf keinen Fall „in die Hände von Ärzten geraten“, denen sie, bis auf einige wenige Ausnahmen, nicht traute. Eine Hebamme und ihre Mutter standen ihr bei, die Nachbarinnen Frau L. und Frau S. assistierten.
Einige Monate vor dieser Geburt hatte Agnes eine Totgeburt: Es war ein kleiner Junge. Dieses schlimme Ereignis - damals keine Seltenheit - hatte sie, wie viele andere auch, sehr mitgenommen und nachhaltig geprägt.

3.2 Die Nottaufe
Nach dieser Erfahrung und da das kleine Mädchen ihrer Mutter - also der Großmutter - sehr schwach erschien und der Krieg in Deutschland inzwischen voll im Gange war, befürchtete die Oma, es könne auch sie alle hier auf dem Lande treffen und bereitete sogleich eine Nottaufe vor, die sie auch selber zelebrierte.
Am darauffolgenden Sonntag wurde das Kindchen dann offiziell in der Kirche vom Probst M. getauft. Die Oma, ihre Mutter also, war sehr katholisch, es wäre für sie unerträglich gewesen, wenn das Kind ungetauft gestorben wäre. Sie hätte sich das nie verziehen. Auch den Namen bestimmt sie. Das wurde von allen widerspruchslos akzeptiert und sie erzählte mir das selbst mit großer Zufriedenheit.

3.3 Die Frühgeburt
1944 gebar Agnes eine weitere Tochter. Sie wurde auf den Namen Rosemarie getauft. Es war eine Frühgeburt und das Mädchen war sehr klein und schwach. Die Nachbarinnen, Frau S. und Frau L., standen wiederum hilfreich zur Seite. Nach ein paar Wochen zeigte sich aber, dass sie es alle zusammen - trotz ihrer Mühen - alleine nicht schafften. Die Kleine wurde abgeholt und zwangsweise in eine Kinderklinik, in der Nachbarstadt, eingewiesen. Ein Brutkasten war frei geworden. Kurzdarauf starb das Frühchen.
Das war wiederum ein Schock für Agnes. An der Beerdigung nahm sie nicht teil. Monate später fuhr sie dann doch mit dem Zug in die Nachbarstadt, um die Grabstätte aufzusuchen. Es war ein winziges Grab mit einem kleinen, namenlosen, weißen Kreuz.
03.02.2021 p

 

4. Bombardements

4.1 Luftangriffe über dem „Kohlenpott“
Die Großmutter erzählte der kleinen Enkelin, nennen wir sie Josi, Folgendes:
Deine Eltern und du hatten seit deiner Geburt viele Luftangriffe erleben müssen, anfangs im Ruhrgebiet, wo auch du zeitweise warst. An manchen Tagen mussten alle mehrmals in den Bunker fliehen. Als deine Mutter nach einem Angriff mit dir aus dem Bunker kam, war dein Kinderwagen, der am Eingang des Luftschutzkellers stand, unter Trümmern begraben. Bei einem anderen Luftangriff war das Haus deiner anderen Oma, in dem deine Eltern lebten, zertrümmert. Es war unbewohnbar geworden.

Als du dann wieder bei uns hier auf dem Lande warst, war auch dann und wann Alarm. Alle Leute musste dann auch hier in Kellern oder Bunkern Schutz suchen, denn man konnte nicht wissen, ob diese Kleinstadt bombardiert würde. Ein ziemlich guter Bunker war in einem Berg, von unserer Notwohnung aus in ca. 10 min zu Fuß zu erreichen. Irgendwann 1944 war wieder einmal Alarm. Die wenigen Habseligkeiten wurden ergriffen und alles hastete los - auch deine Mutter - aber ohne dich. Sie hatte dich wohl in der großen Aufregung vergessen, denn immerhin ging es, wie schon so viele Male vorher, um Leben und Tod.
Dieses Vorkommnis wurde Agnes - Josis Mutter - Jahre später noch vorgehalten und ihrer Tochter Josi entsprechend oft erzählt.
Direkte Luftangriffe waren in der ländlichen Region mit Kleinstädten und Dörfern eher selten.

4.2 Der Luftangriff im Januar 1945
Überall in Deutschland waren ab Herbst 1940 große Städte und z. T. ganze Landstriche durch die Engländer und Amerikaner bombardiert worden, vor allen Dingen auch das damalige Ruhrgebiet. Die Kleinstadt und deren Umgebung waren aber bis zum Januar 1945 relativ verschont geblieben. Dieser Januartag war eiskalt. Die Fensterscheiben waren schon seit Tagen von dicken Eisblumen fest überzogen. Unsere Räume - bis auf die Wohnküche - waren unbeheizt und daher vergleichbar mit Eiskellern. Normalerweise stand dein Kinderbett in unserem Schlafzimmer, das zur Straße hin gewandt lag. Wegen der großen Kälte hatten deine Mutter und ich am Morgen des Januartages beschlossen, dein Bettchen in unsere Wohnküche zu stellen. Du solltest jetzt während der eiskalten Zeit in der warmen Küche schlafen, dem einzigen - mit Hilfe des Küchenherdes - beheizten Raum unserer Notwohnung.
So um die Mittagszeit gab es Fliegeralarm, aber das Geschwader donnerte über die Stadt hinweg, in Richtung Kassel. Ob von einer Entwarnung die Rede war, weiß ich nicht. Ganz plötzlich aber kehrte das Geschwader um und ließ seine Bomben auf unsere Stadt fallen. Es gab viele Tote und Verletzte und viele Häuser wurden zerstört. Eine Bombe schlug auf der Marktstraße, etwas westlich des Hauses, in dem wir wohnten, ein und riss einen tiefen Krater in die Straße. Dabei wurde ein Gesteinsbrocken herausgeschleudert und fiel mit einer solchen Wucht auf das Haus, dass er durch das Dach und unsere Schlafzimmerdecke hindurch schlug und genau an der Stelle auftraf und liegen blieb, wo noch bis zu diesem Morgen dein Bettchen gestanden hatte, in dem du noch viel schliefst, weil du ja erst eineinhalb Jahre alt warst.
Dieses schlimme Ereignis, aber auch der glückliche Zufall, dass an diesem Tag dein Bettchen in unserer Küche stand und dir deshalb nichts passiert war, wurde von uns allen als „eine Fügung Gottes“ angesehen.
Darüber wurde manchmal mit voller Dankbarkeit gegenüber Gott und großer Ehrfurcht gesprochen.

Der Schaden in unserem Haushalt war abgesehen von zerbrochenem oder beschädigtem Glas, Porzellan und Gebrauchsgeschirr relativ gering. Auch an Möbelstücken konnte man die Spuren dieses Einschlags sehen.
Bei den Erzählungen wurden sie Josi auch immer wieder gezeigt. Alle betonten jedoch dabei immer dieses Glück, das uns und besonders der kleinen Josi widerfahren war.

Als Ursache für den Angriff, also dass das Geschwader, nachdem es die Stadt überflogen hatte, plötzlich wieder umkehrte und seine Bombenlast über der Stadt abwarf, wurde von einem großen Teil der Stadtbevölkerung Folgendes angesehen: In der ehemaligen Volkschule waren deutsche Soldaten einquartiert. Die Piloten des Bombergeschwaders hatten offenbar aus der Luft beobachtet, dass Soldaten auf dem Schulhof exerzierten. Ein Leutnant oder Unteroffizier hatte diese Übungen trotz der herannahenden Flieger nicht abbrechen lassen. Die Bevölkerung war im Stillen entsetzt und empört zugleich. Aber offen etwas dagegen zu sagen, wäre auch Anfang 1945 noch lebensgefährlich für denjenigen geworden, der dies gewagt hätte. Die Menschen waren nach außen hin stumm und blieben es auch nach dem 08. Mai 1945 - dem Tag der Kapitulation - weitgehend noch!

Auf dem beschädigten Fußboden dieses Wohn- und Schlafraumes der Notwohnung in dem alten Haus war jahrelang eine großflächige Vertiefung, die die kleine Josi sehr gern zum Spielen mit leeren Garnröllchen nutzte. Die Röllchen kullerten so schön in die Vertiefung.
11.02.2021 p

 

5. „Schützenwolle“

5.1 Die Großmutter erzählt der kleinen Josi:
In der großen Schützenhalle waren neben anderen Dingen auch die Sachen von aus dem Ruhrgebiet evakuierten Menschen untergestellt. Auch deine Eltern hatten in eine Ecke der Halle Möbel, ein Klavier und in Kisten und Koffern verpackte Sachen stellen dürfen, denn in unserer kleinen „Notwohnung“, in der wir alle zusammen dicht gedrängt leben mussten, war kein Platz dafür.

Durch den Bombenangriff im Januar 1945 war auch die Schützenhalle beschädigt worden und der Teil, wo unsere Sachen standen, besonders stark, so dass Möbel, die nicht gerade zertrümmert waren, z. T. durch eindringendes Schmelz- bzw. Regenwasser so stark beschädigt waren, dass sie dadurch unbrauchbar geworden waren. Nach und nach verschwanden viele der noch brauchbaren Sachen, für die es keine andere Unterstellmöglichkeit gab, so auch unser Klavier. Wie nach Katastrophen leider üblich, gab es auch hier Plünderungen.

5.2 Stricken, Stricken, Stricken, Stricken …
StrickhandschuheIn diesen Monaten und auch in den Nachkriegsjahren hielt vor allem ich uns alle dadurch über Wasser, dass ich strickte: Mützen, Handschuhe, Strümpfe, Kniestrümpfe, Socken, Jacken, Pullover, Röcke, Kinderkleidung und für dich sogar Unterhosen für den Winter. Für deine zarte Haut waren sie aber nicht so gut, da sie offenbar schrecklich kratzten. Sie schützten dich aber vor Kälte und Erkältungskrankheit. Ich konnte schöne Muster stricken und bekam sehr bald viele Aufträge. Oft saß ich im Sommer - nach getaner Arbeit im Garten und in der Küche - noch spät abends strickend am Fenster, um so das restliche Tageslicht auszunutzen, denn Strom und auch Petroleum waren zu teuer und wurden deshalb immer eingespart.
Ich verstrickte alles: Wolle von alten, aufgerebbelten Stricksachen und manchmal brachten mir Leute Wolle mit einem Auftrag und genauen Vorstellungen, was und wie ich stricken sollte. Dafür bekam ich Geld oder Waren. In der Schützenhalle war auch viel Wolle gelagert und man konnte sie günstig kaufen. Sie hieß „Schützenwolle“ und ich habe davon auch Mengen verstrickt. Deine Patentante Martha hatte ein altes Spinnrad und sie konnte recht gut spinnen und ich strickte aus der gesponnenen Wolle auch diese Jacke, die du so gerne hast. Das Puppenkleidchen hab´ ich dir zu deinem Namenstag gestrickt, weißt du das noch?
Die „Schützenwolle“ reichte natürlich nicht aus. Schafherden wurden manchmal entlang getrieben. Wenn wir an Weidezäunen vorbei gingen, sammelten wir die Schafswolle, die am Stacheldraht hängen geblieben war, ein, kämmten sie aus, wuschen sie und Tante Martha und ich verarbeitete sie dann zu den „berühmten“ Stricksachen. Wenn ich sie verkaufen konnte, konnten wir wieder etwas kaufen, z. B. ein bisschen Fleisch und auch Kleinteile von der neuen Metzgersfamilie in unserer Straße oder andere Lebensmittel aus dem Kolonialwarenladen am Marktplatz.
22.02.2021 p

 

6. „Ein ewiges Hin und Her“

Josi erfuhr von ihrer Oma: Deine Eltern waren mal bei uns und dann gingen sie zurück, um Zuhause im Ruhrpott nach dem Rechten zu sehen. Und das einige Male, etwa in einigen Monatsabständen. Manchmal nahmen sie dich auch mit. Ein Haus, gerade wenn es fast zerstört war, konnte man nicht längere Zeit allein lassen. Sie kamen dann wieder zu uns, weil der Krieg hier nicht so zu spüren war.
Dein Vater war gelernter Bäcker. In der angesehenen Bäckerei am Marktplatz hatte er eine gute Stelle angenommen. Per Zufall erfuhr Opa, dass dein Vater wieder einmal seine Arbeitsstelle verloren hatte und ging zu dem Bäckermeister, der auch der Besitzer dieser Bäckerei war. Opa bat ihn inständig, deinen Vater, der ja Familienvater war, doch nicht vor die Tür zu setzen, da der Lohn dringend gebraucht wurde.
Der Bäckermeister zeigte Verständnis für Opas Anliegen, packte dann aber aus und berichtete, dass dein Vater häufig morgens früh schlaftrunken in der Backstube erschien und eine Alkoholfahne ihn schon von weitem ankündigte. Er legte sich gern mit den anderen in der Backstube an. Das Schlimmste aber war, dass Stammkunden die von deinem Vater gebackenen Brote verschmähten, denn die könnte man nicht essen, die schmeckten nicht. Der Bäckermeister behauptete, dass das seinen Ruin bedeute. Er sagte, er könne Opa verstehen, aber der solle auch ihn verstehen. Und es blieb bei der Kündigung.
Da dein Vater hier auf dem Lande keine neue Stelle fand und wir Beide euch die ganze Zeit nicht auch noch „durchfüttern“ konnten, gab es viele Vorwürfe und direkt Krach. Er ging und du und deine Mutter mussten mit in den „Kohlenpott“ zurück. Deine Mutter wollte nicht. Es half aber nichts, sie war seine Frau und er als Ehemann bestimmte über sie. Einige Zeit später war sie mit dir wieder bei uns und erklärte, sie habe ihn verlassen und ginge nicht mehr zu ihm zurück. Er kam kurze Zeit später, um sie zu sich zurück zu holen, versprach „hoch und heilig“ Besserung. War auch äußerst lieb und zuvorkommend zu ihr. Er umwarb sie direkt. Auch behauptete er, eine neue Arbeitsstelle in Aussicht zu haben. Aber die Versprechungen hielten offensichtlich nicht lange an. Bald war alles wie vorher.
Sie stand als Ehefrau und Mutter unter dem Druck, ihm folgen zu müssen. Opa machte ihr unmissverständlich klar, dass sie ihm zu folgen habe. Sie ging widerwillig mit ihm zurück. Ihr einziger Lichtblick warst wohl du. Du warst ihr zwar manchmal sehr lästig, aber sie war auch stolz auf dich. Und die ganze Familie mochte dich. Du warst so zart und doch so „wach“. Dieses Hin und Her wiederholte sich bis Kriegsende.

 

7. Einmarsch der Amerikaner

7.1 Einmarsch der Amerikaner
Wieder einmal erzählte Oma der Josi:
Im Frühjahr 1945 rückten die Amerikaner vom Rhein immer weiter nach Osten vor. Aus der Ferne hörte man schon dumpfes Grollen. Als die Amis dann etwa 20 km entfernt waren, war das Donnern der Geschütze bereits laut zu hören. Sie rollten, ohne sich aufhalten zu lassen, mit ihren Panzern über die Chaussee auf die Stadt zu. Beherzt nahm Herr S., späterer Bürgermeister der Stadt, ein großes, weißes Bettlaken, stieg auf den hohen, wuchtigen, städtischen Wehrturm und hängte es aus dem kleinen Westfenster hinaus, so dass es von weitem zu sehen war. Damit zeigte Herr S., dass sich die Bürger ergeben wollten. Diese sehr mutige und entschlossene Tat hat die Stadt vor einem Beschuss durch die Amerikaner bewahrt. - Die Tat war deshalb so mutig, weil in anderen Orten Personen bei solchen Taten von zurückweichenden Nazis erschossen worden sind. Auch hier lebten nicht wenige „Linientreue“, wie die nächste Begebenheit zeigt.

7.2 Standrechtliche Erschießung eines Bürgermeisters
Anders jedoch war es in einem kleinen Dorf, westlich der Stadt gelegen, zugegangen. Als die Amerikaner dort durch die Straßen rollten, wurde aus dem Kellerfenster des Hauses, in dem der dortige Bürgermeister wohnte, geschossen. Amerikanische Soldaten stürmten sofort das Haus und trafen den Bürgermeister in seinen Wohnräumen an. Sie warfen ihm kurz vor, dass aus dem Kellerfenster dieses Hauses geschossen worden sei. Er bestritt vehement, es gewesen zu sein und behauptete, nichts davon zu wissen, möglicherweise habe ein anderer geschossen und sei dann geflüchtet. Einige Soldaten liefen schnell um das Haus herum, wobei sie auch über Zäune sprangen, fanden aber niemanden, der geschossen haben könnte. Daraufhin beschuldigten sie ihn der Tat, führten ihn den Kreuzberg hoch, stellten ihn vor einen großen Baum und erschossen ihn. Das nannte man „eine standrechtliche Erschießung“, das Ganze dauerte etwa eine Viertelstunde. - Einige Dorfbewohner meinten, dass dies die gerechte Strafe dafür gewesen sei, dass er Jahre zuvor einem armen, alten Juden, der sich in den umliegenden Wäldern versteckt hielt, gefolgt sei, als dieser im Dorf Eier gesammelt hatte und er sie ihm wieder abgenommen hatte.
Josi erinnert sich: Als kleines Mädchen wurde mir der Baum gezeigt. Ich meine, es war eine Linde. Meine Oma beendete diese Erzählung meistens mit dem Sprichwort: „Alles rächt sich auf Erden“.
03.03.2021 p

 

8. Die Scheidung

Josi erinnert sich an Erzählungen aus „einer dunklen Zeit“:
Es war vermutlich der 09. Mai 1945. Mutter kam bei Oma und Opa auf dem Land an - mit einem halb toten Kleinkind auf dem Arm - und das kranke Kind war ich. Oma hatte dann alles versucht, mich aufzupäppeln und „wieder auf die Beine zu kriegen“. Es hieß, wenn der Viehdoktor ins Haus kam, guckte er zuerst nach den Schweinchen und dann nach dir. Er ordnete einiges an, was dir half und „so bekamen wir dich über den Berg“.

Die Kapitulation des Nazi-Regimes fand am 08. Mai 1945 statt. Mutter erkannte die Gelegenheit, sich nun von meinem Vater endgültig zu trennen. Sie hatte Angst vor ihm. Er zeigte sich nicht nur ihr gegenüber brutal und sie schien ihn dafür zu verabscheuen. Gegen Kriegsende war er als Gefangenenaufseher in ein Lager berufen worden. Eines Tages kam er stark angetrunken - wie schon häufiger - nach Hause und brüstete sich vor meiner Mutter, er habe einen Polen, der niedergekniet war, um zu beten, mit seinen Stiefeln getreten: „Das Polenschwein sollte arbeiten!“ – Dieser Vorfall war „wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte“. Meine Mutter überkam ein Ekel vor meinem Vater und sie fasste den festen Entschluss, ihn endgültig und für immer zu verlassen, auch auf die Gefahr hin, dass ihr etwas passiere. Und mich habe sie zu Oma und Opa - also ihren Eltern - bringen wollen.

Aus all den fragmentarischen Erzählungen meiner Mutter, in größeren zeitlichen Abständen, ergibt sich für mich folgender Hergang: Am 08. Mai 1945 war - wie bereits erwähnt - die Kapitulation. Meine Mutter begriff, dass die Nazi-Herrschaft vorüber war und veranlasste die Scheidung. Das Regime war offiziell beendet, jedoch für sie stellten sich ihr Mut und diese Zäsur als eine sehr große Täuschung und Enttäuschung heraus.

Den Weggang mit mir hatte sie - wie schon frühere Male - bereits heimlich vorbereitet.
Direkt nach der Kapitulation hatte sie den Pfarrer der naheliegenden katholischen Kirche - zu dessen Gemeinde auch sie und mein Vater gehörten - um ein Gespräch und um Hilfe ersucht, war aber wegen ihrer Trennungsabsicht von ihrem Ehemann von dem Pfarrer „mit Schimpf“ aus dem Pfarrhaus gewiesen worden.

Mutter und Vater ließen sich scheiden. Der Scheidungsprozess am Landgericht in Dortmund dauerte länger, als Mutter erwartet hatte. Er „war gespickt mit übelsten Anschuldigungen, Beschimpfungen und Verleumdungen“. Während des Prozesses soll mein Vater auch argumentiert haben, ich sei nicht von ihm, um sich dem „Sorgerecht“ für mich entziehen zu können. Der Richter habe laut gelacht und zu meinem Vater gesagt: „Das Kind sieht Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich“. Letzteres erzählte Mutter mir, als ich älter war, mehrmals, um mir die Niederträchtigkeit meines Vaters zu verdeutlichen. Der Richter bezeichnete die Ehe als „völlig zerrüttet“. Mutter wurde nach dem langen Prozess „schuldig geschieden“.
Sie hingegen bezeichnete sich immer - und das sogar schriftlich - als „unschuldig Geschiedene“.
09.03.2021 p

 

9. Agnes - die Verfemte

So hatte sie es nicht erwartet! Es ist nicht mehr auszuhalten. Sie geht, rennt fast. Vor Einbruch der Dunkelheit muss sie noch bis zu dem letzten Bauern kommen. Vielleicht sind das gute Menschen, die sie für eine Nacht im Stroh schlafen lassen und ihr auch etwas zu essen geben. Sie hat Glück mit dem Wetter. Es ist schön warm, es weht ein leichtes Lüftchen und es riecht so gut. Das Korn steht schon sehr hoch. Es bleibt ihr aber wenig Zeit, die Gegend zu bewundern. Sie ist wie auf der Flucht. Für alle hat ihr Vater Verständnis und sorgt für sie, nur sie braucht nichts zu sagen und hat auch nichts zu sagen. Er hat sie verstoßen, vielleicht sogar verflucht. Sie soll ihm nicht mehr unter die Augen treten. Die Kleine haben sie genommen und versprochen, für sie zu sorgen. Sie will ja arbeiten. Sie will niemandem auf der Tasche liegen, aber Arbeit finden, ist nicht leicht.
Wenn das Wetter so gut bleiben sollte, kann sie es in zwei Tagen bis nach Dortmund schaffen. Alma und ihr lieber Mann werden einen Platz und vielleicht sogar eine gute Arbeitsstelle für sie finden. Sie ist zuversichtlich, denn Alma ist ihre Freundin seit alters her und ihr Mann hat früher schon großes Verständnis für sie gehabt. Dann ist da noch Fräulein Sauerbier, eine frühere Freundin ihrer Mutter, die kennt viele Leute und wird sich sicher für sie umhören. In Dortmund kann sie wieder aufatmen - trotz der stinkenden, verrußten Luft - dessen ist sie sich gewiss. Irgendwann kann auch sie vielleicht wieder lachen.
Der Weg ist sehr schlecht, es sieht so aus, als ende er gleich. Sollte sie an der Weggabelung falsch abgebogen sein? Sie ist diese Strecke früher schon mehrmals gegangen. Irgendetwas stimmt da nicht. Die Füße brennen, ach auch das noch, eine Blase. „Reiß dich zusammen!“, ruft sie sich laut zu. Sie schreit es fast hinaus. Moment, da oben scheint eine Landstraße zu sein! Mal sehn! Sie klettert die Böschung hinauf. Ha, Glück gehabt! Wenn jetzt noch ein Fuhrwerk vorbeikäme und sie ein Stück mitnehmen würde, das wäre knorke. Ihre Schritte verlangsamen sich, die Blase schmerzt und sie wird müde. Außerdem hat sie schrecklichen Durst. Moment, da kommt was. Das ist ein Militärfahrzeug, das sind Belgier. Oh, sie hat sagenhaftes Glück. Sie halten an. Es ist ein Hauptmann mit seinem Leutnant. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und spricht die Beiden auf Niederländisch an. Sie darf zusteigen und sie fahren los. Die Unterhaltung ist anfangs zurückhaltend, wird aber immer lockerer. Jetzt sind sie schon einige Zeit unterwegs, schätzungsweise zwei Stunden oder mehr? Sie traut ihren Augen nicht: „Da steht ja Brackel“- „Das ist ja Dortmund-Brackel!“. Und hier halten sie an und verabschieden sich auf eine sehr höfliche Art von ihr. Es stellt sich heraus, sie sind für sie einen großen Umweg gefahren, aber weiter dürfen sie nicht. Stunden später wird ihr klar, warum.
06.04.2021 p

 

10. Bei Alma in Huckarde

10.1 Ankunft
Sehr spät, es war fast Mitternacht, kam Agnes bei Alma und Erwin, ihrem Ehemann, in Huckarde - müde, durstig und sehr hungrig - an. Sie war jedoch zwei Tage früher, als per Brief angekündigt, eingetroffen. Sie klopfte behutsam, um sich bemerkbar zu machen, die Nachbarn wollte sie nicht mit aufwecken. Die Überraschung war groß und auch die Freude über das Wiedersehen nach über einem Jahr. Brieflich hatten beide sich häufiger ausgetauscht, aber was war das schon im Vergleich zu diesem Moment.
Agnes saß mit den Beiden zusammen am Küchentisch in der kleinen, dürftig möblierten Küche. Alma und Erwin schauten sie prüfend an. Ihnen entging nicht, dass Agnes sehr mitgenommen war, ihre Haut war fahl und die Augen eingefallen. Agnes bat um ein Glas Wasser und eine Stückchen trockenes Brot, wenn sie das hätten. Kurze Zeit später war auch noch ein Restchen Kartoffelsuppe auf einem uralten Propangaskocher aufgewärmt und Agnes aß sehr langsam, denn sie wusste, wenn sie das Essen jetzt hinunterschlingt, wird sie etwas später von Koliken geplagt. Alma holte eine Speckseite aus dem Vorratsschränkchen und schnitt für Agnes eine dicke Scheibe frischen, fetten Speck ab, denn sie wusste, dass sie damit Agnes nicht nur überrascht, sondern ihr auch eine große Freude macht. Und zur Krönung des Ganzen wartete Erwin auch noch mit einem Aufgesetzten von schwarzen Johannisbeeren auf.
Als Agnes kurz aufstand, fiel den Gastgebern auf, dass sie humpelte. Die Blase hatte sich entzündet und Alma wusste sogleich, was zu tun ist. Ein Baumwollfaden wurde in eine Nähnadel eingefädelt und die Nadel über einer Kerzenflamme erhitzt, der Faden durfte aber nicht mit dem Feuer in Berührung kommen und glimmen, ihr großes Fingerspitzengefühl war gefordert. So wurde diese Nadel mit Faden mit Hilfe einer Pinzette durch die Blase gezogen. Die Lymphflüssigkeit floss an dem Faden schnell ab und er konnte entfernt werden. Zugsalbe kam auf den Bereich und es blieb abzuwarten, ob die Entzündung wieder abklang. Als Binden waren ca. 5 cm breite Steifen aus alten, zerschlissenen, weißen Leinenbettlaken geschnitten oder gerissen worden und wurden nun um ihren Fuß gewickelt.
Mittlerweile war es tiefe Nacht geworden. Schnell wurde eine Pritsche in der Abstellkammer aufgestellt, Laken und ein paar Decken lagen auch bereit und Agnes konnte sich zurückziehen und schlief schnell ein.

10.2 Am nächsten Tag
Als sie am anderen Morgen erwachte und sich orientieren musste, war sie allein. Die Beiden waren nicht da. Auf dem Tisch lag ein Zettel: „Speck und 2 Eier im Kämmerchen, Mehl in der Mehlschütte, etwas Öl und getrocknete Kräuter, Beerenteeblätter in der Blümchendose. Liebe Agnes, Du wirst Hunger haben. Guten Appetit!
Agnes schaute zunächst aus den Fenstern der Wohnung. In den Gärten ringsum blühte es so schön. Ein alter Mann saß auf einer Bank und schien zu schlafen. Etwas weiter entfernt sah man noch viele Hausruinen. Die Spuren des Krieges waren hier - verglichen mit den Orten auf dem Lande - noch zu sehen, obschon die Leute den Schutt großenteils weggeräumt hatten. Alles ging sehr langsam voran. Was sie sah, bedrückte sie. Das Wetter war gut, die Sonne schien zwar, aber die Luft war voller Dunst und Qualm - wie es im Kohlenpott so ist, sagte sie sich. Trotzdem war sie froh, im Moment hier zu sein. Sie frühstückte zwei Speckpfannekuchen und trank etwas Tee dazu. Dann machte sie sich nützlich und räumte die Wohnung auf und überblickte schnell, was zu putzen war, denn das war ihr Beruf - ausgebildete Haushaltsgehilfin - eigentlich gelernte Köchin. Alles ging ihr schnell von der Hand. Am Nachmittag fuhr sie mit der Tram, um einige Lebensmittel zu ergattern, denn die Beiden hatten kaum etwas und sie wollte unbedingt zum Essen beisteuern. Ein paar Lebensmittelmarken hatte sie noch in der Tasche, vielleicht galten sie auch hier?! Und etwas Geld für Notzeiten hatte sie auch zurücklegen können. Ein Blick aus dem Fenster der Tram ließ die ganze Trostlosigkeit erkennen und manche Gestalten sahen noch armseliger aus als sie selber. In einem Kolonialwarenladen bekam sie etwas Mehl, Zucker und ein Ei und in einer Metzgerei einige Wurstenden. Sie war zufrieden.
Alma war schon da, als sie am Abend zurückkam, und Erwin war noch auf Strecke. Er war Eisenbahner und war zeitweise sogar bei der Rotte als Vorarbeiter eingesetzt. Kräftige Männer wurden für Gleisbettarbeiten abgestellt, mehr oder weniger freiwillig, denn die Bahnstrecken waren stellenweise immer noch stark beschädigt.
Die beiden Frauen kochten schnell eine Mehlsuppe mit Jeselchen und Brennnesseln vom Bahndamm. Alma hatte die Kräuter vorhin auf dem Weg nach Hause schnell gepflückt. Sie hatte auch noch zwei Möhren. Die Beiden waren sehr ausgehungert. Die Suppe war wie ein Festtagsessen. Sie räumten die Küche auf und machten den Tisch frei. Alma zog einen Karton unter ihrem Bett hervor, ein großes Stück Fallschirmseide. Was konnte man damit machen? Agnes begutachtete den Stoff und schlug vor, es erst einmal mit einer Bluse zu versuchen. Sie nahm an Alma Maß und zeichnete flink ein Schnittmuster, denn auch das hatte sie in jungen Jahren gelernt und gelernt ist gelernt. Sie schnitt zu und beide reihten die Teile zusammen. Die Bluse saß. Noch ein paar Volants sollten dran.
Nun beschlossen sie, schlafen zu gehen und morgen sofort das Werk zu vollenden.
06.05.2021 p

10.3 Arbeiten, um zu überleben
Die Bluse wurde tags darauf auf der alten Singer-Nähmaschine von Alma fertig genäht. Sie passte wie angegossen und beide waren zufrieden. Aus dem Stoffrest entstand noch ein Blüschen für Josi, Alma wollte es so.
Beide Frauen machten sich auf den Weg, um zu hamstern. Sie schauten, ob sie irgendwie etwas Brauchbares ergattern konnten. So auch die nächsten Tage. Manche Bauern brauchten auch Leute zum Rüben verziehen oder für andere Feldarbeiten. Sie zahlten nichts, aber es gab gutes Essen, schon allein dafür lohnte sich die harte Arbeit. Am Ende einer solchen Kampagne bekamen sie auch manchmal Feldfrüchte geschenkt.
Agnes sehnte sich wieder nach einer festen Anstellung als Haushaltsgehilfin, Köchin oder Hausdame. Alma wollte die Freundin jedoch lieber bei sich behalten und hoffte, mit ihr zusammen durch Gelegenheitsarbeiten den Lebensunterhalt zu bestreiten. Erwin wollte nicht, dass seine Frau bei Fremden arbeitete. Er war der Meinung, dass sein Verdienst ausreicht. Außerdem hatten sie in einem Gemeinschaftsgarten drei kleine Rabatten. Zwiebeln, Möhrchen, Erbsen, Rotebeete und ein bisschen Pflücksalat und Rauke. Alles gedieh gut in dem lockeren Lößboden. Erwin sah, dass es genug Arbeit für Alma gab. Sie war manchmal kränklich. Sie hatte so ein „vornehmes“ Hüsteln, das aber nichts Gutes ahnen ließ.

10.4 Das quälende Gespräch
Alma kam auf den Punkt: „Wieso hattest Du den Mann geheiratet?
Keine Antwort! Sie ließ nicht nach. Agnes Blick verdüsterte sich. Sie wollte vergessen. Sie wollte Ruhe, innere Ruhe. Und jetzt die bohrenden Fragen. Nichts kam, keine Reaktion. Die Freundin sah, dass es so nicht ging.
Vermisst Du Dein kleines Mädchen?“ „Nein, es ist nicht mein Kind.“ „Was sagst Du denn da, Agnes?“ „Du verstehst das nicht. Natürlich, ich habe sie zur Welt gebracht. Das ist aber alles. Sie sieht aus wie der Kerl und so ist sie auch. Fordernd! Viele Zähne habe ich während der Schwangerschaft verloren, durch diese Blage. Meine Eltern sind vernarrt in sie und tun alles für sie, mich haben sie verdammt.“ „Aber das Kind ist doch klein und kann nichts dafür.“ „Ja, natürlich nicht, aber wenn ich die Blage sehe oder an sie denke, ist es für mich wie ein Alptraum. Du kannst Dir nicht vorstellen wie meine Ehe war, ein Martyrium! Der Kerl kam besoffen nach Hause und schmiss sich in voller Montur, mit verdreckten Stiefeln und allem auf die frisch bezogenen Betten und das nicht nur einmal. Und dann übergab er sich und das auch nicht nur einmal. Und er stank. Mit dem Revolver bedrohte er mich, wenn ich nicht sofort tat, was er verlangte. Seine Mutter tröstete mich manchmal und erklärte, dass er immer schon das ‘schwarze Schaf der Familie‘ gewesen sei. Seine erste Frau habe auch sehr gelitten und nach ihrem Tod sei es immer schlimmer mit ihm geworden. Arbeiten könne er ja auch nicht richtig. Und seine Töchter haben auch noch gegen mich gehetzt. Manchmal hatte ich Angst, dass er mich und die Kleine gleich umbringt. Sein rotes Gesicht mit der blau angelaufenen Nase formte sich zu einer Grimasse und ich dachte, der Satan steht vor mir. Und das war auch nicht nur ein Mal.
Das erzählst Du jetzt das erste Mal. Wir hatten uns alle gewundert, dass du einen Mann mit sechs Kindern geheiratet hattest, der auch noch 11 Jahre älter ist als Du, auch deine Eltern verstanden es nicht. Aber Du hast nie etwas erzählt.

Agnes ringt nach Luft! Sie bittet Alma flehentlich, sie in Ruhe zu lassen. Sie will es sich doch nicht mit ihrer lieben Freundin verderben, aber sie kann nicht mehr. Die kommende Nacht liegt sie schlaflos da, sie ist total aufgewühlt.
Am nächsten Morgen wirkt Agnes noch verhärmter und Alma bemerkt, dass die Freundin sehr abgemagert ist. Agnes beschließt nun ihre Stellensuche zu intensivieren. Sie wendet sich an Mitarbeiterinnen der Caritas, ihr zu helfen. Dann auch an den Bonifatiusverein und … .
28.05.2021 p

 

11. Agnes tritt eine neue Arbeitsstelle an

11.1 Reiner Zufall
Agnes fuhr schon früh am Morgen mit der Tram in die Stadt. Sie wollte einige Leute, die sie kannte, aufsuchen. Es war noch zu früh, um unangemeldet zu erscheinen. Ihr Magen knurrte laut, das war sie schon gewohnt, Hunger! Einige fast unscheinbare Gestalten huschten an ihr vorbei. Manche Männer lungerten in irgendwelchen Ecken - nahe der Reinoldikirche - herum. Armseelig anzuschauen. Einige von ihnen verkrüppelt, gestützt auf selbstgezimmerten Krücken.
Wind kommt auf und ein Stück Zeitung weht ihr fast ins Gesicht. Es sind Stellenausschreibungen. Sie steckt das Zeitungsstück in die Tasche. Da ist ein kleiner Mauervorsprung, geformt wie Tisch und Stuhl. Sie liest die Inserate alle in Ruhe durch. Das wäre ja das Richtige: „Lehrerehepaar mit drei Kindern sucht ehrliche, zuverlässige Haushaltshilfe“. In, du glaubst es nicht, in der Nähe ihrer Eltern und Josi. Ist das Zufall? Und neben der Chiffre ist eine Telefonnummer angegeben. Das Postamt ist nicht weit und sie telefoniert. Am anderen Ende der Leitung fragt eine sehr sympathische Frauenstimme, ob sie schon morgen kommen könne. Agnes sagt zu, fährt umgehend zurück zu Alma, die völlig überrascht ist, Agnes aber gut versteht.
Jetzt verspürte Agnes einen solchen Hunger, dass ihr schon schwarz vor Augen wurde. Alma tischte auf: Sauerampfersuppe, mit einigen Brotresten. Die beiden bessern noch Kleidungsstücke aus und stopften Socken und Strümpfe. Als es dunkel wurde, gingen sie schlafen.

11.2 Abschied und Ankunft
Am nächsten Morgen begleitete Alma die Freundin - nach einem guten Frühstück - zum Hauptbahnhof. Sie hatte für Agnes noch ein Stückchen Brot und ein Wurstende eingepackt. Der Abschied war kurz, aber innig und Agnes fuhr wieder Richtung Süden.

Gegen Abend kam sie an und wurde von den Herrschaften freundlich aufgenommen. Der Arbeitsvertrag sagte ihr zu und alles ging ihr gut von der Hand. Die Kinder waren höflich; sie waren wohl erzogen. Mit dem Essen und dem eigenen Zimmer war Agnes sehr zufrieden. Wenn sie einen halben Tag frei hatte, was alle vierzehn Tage vorkam, traf sie ihre Mutter und sah auch ihre kleine Tochter Josi. Manchmal beschlich sie sogar ein gewisser Stolz.
Alles war gut, auch der Lohn stimmte.
06.06.2021 p

11.3 Die fristlose Entlassung bzw. der Rauswurf
Agnes hatte sich recht schnell eingelebt. Manchmal war die Arbeit viel und auch nicht leicht. Waschtage waren ihr schon immer ein Horror. War die Wäsche aber trocken, so duftete sie nach der wunderbar frischen Luft. Die gute Luft genoss sie sehr. Das Klima war zwar rauer und nasser als in Dortmund, aber die Luft war rein und klar. Es gab mehr Regentage. Regen - an warmen Sommertagen - mochte sie sogar. Sie hatte sich trotz der Arbeit auch irgendwie erholt. Spät abends, nach Feierabend, nähte sie in ihrem Zimmer aus Stoffresten Puppenkleider oder auch Stoffbälle für Josi als Weihnachtsgeschenke. Auch ihre Kleidung musste sie immer wieder überholen. So saß sie oft nähend und stopfend da, bis sie müde wurde. Ihr Arbeitstag begann morgens früh um sechs Uhr.
Nun war Agnes schon einige Monate in diesem Haushalt tätig. Die Herrschaft schien mit ihr zufrieden zu sein. Mit der Dame des Hauses verstand sie sich gut und die Beiden plauderten manchmal über Gott und die Welt. Auch die Kinder mochten sie mittlerweile sehr und sie die auch.

Es war Mitte Dezember. Schnee war gefallen. Schön sah die verschneite Landschaft aus und das Dorf war noch hübscher anzusehen als sonst, meinte sie.
Der Herr Lehrer betrat wesentlich später als gewöhnlich mit hochrotem Kopf sein Haus, ging wortlos an ihr vorbei und nahm seine Frau mit in sein Arbeitszimmer. Agnes hörte die beiden aufgeregt diskutieren. Manchmal wurde er etwas lauter und sie merkte, es ging wohl um ihre Person.
Er rief Agnes zu sich und befahl ihr – „sofort und auf der Stelle“ - ihre Sachen zu packen und das Haus umgehend zu verlassen. Seine Frau stand mit Tränen in den Augen hinter ihrem Mann und wandte sich dann wortlos ab. W a r u m ? - Das wurde nicht beantwortet.
Schluchzend ging Agnes in das Zimmer, raffte ihre paar Habseligkeiten zusammen und verlies den Ort in Richtung Stadt und kam in der überfüllten Notwohnung ihrer Eltern spät abends an, denn sie war über acht Kilometer zu Fuß gegangen und stellenweise lag der Schnee recht hoch. Ihr war kalt, sie hatte großen Hunger und war übermüde.
13.06.2021 p

 

12. Ungebetener, ungeliebter Gast - Nirgends zuhause!

12.1 Für Agnes ist kein Platz
In den kommenden Wochen wird Agnes mit Fragen überhäuft, auf die sie keine Antwort weiß.
Die Wohnung ist voller Personen, meist Frauen mit ihren Kindern - Verwandte, vor allem ihres Vaters - von denen sie vorher kaum etwas wusste. Sie waren alle aus dem Memelland gekommen. Vertrieben oder geflohen, das war nicht ganz klar. Auf jeden Fall waren sie vor den Russen weggerannt. Sie hatten das, was sie am Leibe trugen, teilweise auch Bargeld - Scheine - irgendwo in der Kleidung eingenäht. Oma Rosalie - die Cousine ihres Vaters - war besonders gut ausgestattet. Sie trug einen schweren Persianermantel und der war gut präpariert.
Die Frauen hatten erfahren, dass ihre Männer auf der Flucht mit den Pferdefuhrwerken fast alle im zugefrorenen Kurischen Haff untergegangen waren. Das war irgendwie so durchgesickert. Manche hofften aber, sich wieder zu finden. Und diese Verwandtschaft - für die Agnes´ Vater, aus dem verarmten Familienzweig stammend, vorher nicht standesgemäß war - traf nach und nach bei Agnes´ Eltern ein. Das war die Anlaufstelle, so zeichnete es sich ab. Ihr Vater und auch die Hausbewohner fanden - mit der Unterstützung des Bürgermeisters - vor allem für die Frauen mit Kindern provisorische Unterkünfte. So wurde die Familie etwas entlastet. Aber alle kamen vorbei, wenn sie etwas brauchten und das teilweise resolut fordernd.
Zwei von vielen Vorfällen blieben noch jahrelang in Erinnerung der Familie. Sie lebte in der beengten Notwohnung und hatte nur das Nötigste. An Genussmittel war gar nicht zu denken. Oma Rosalie - ausgestattet und geehrt mit dem „Eisernen Kreuz“ wegen der vielen Kinder, die sie geboren hatte - rügte, dass kein Bohnenkaffee da war, noch nicht einmal sonntags. Sie hätte immer Bohnenkaffee im Haus gehabt, so rühmte sie sich. Das brachte das Fass zum überlaufen. Und der Hausherr, Agnes’ Vater, konterte hoch erzürnt: „Geh in dein geliebtes Ostpreußen und hol den Kaffee, dann haben vielleicht auch wir alle etwas davon.“ - Die Stimmung war denkbar schlecht.
Eine weiterer Streitpunkt, die alte Singer-Nähmaschine: Die Frauen kamen, um dieses oder jenes zu nähen. Die Maschine war sehr wichtig und fast jeden Tag im Einsatz. Agnes´ Mutter ging vorsichtig mit ihrer Maschine um. Nicht aber die Verwandtschaft. Prompt „streikte“ die Maschine; es gab Gezänk. Sie verließen wutentbrannt die Wohnung und Agnes´ Mutter brachte die Nähmaschine mit viel Geduld und großem Zeitaufwand wieder in Ordnung. An solchen Episoden, die sich wiederholten, entzündeten sich oft richtige Streitorgien. Es gab aber auch Lustiges, davon später.

Agnes - der Unglücksrabe - war in dieser Enge, in dieser verpesteten Atmosphäre noch mehr fehl am Platze. Wie schon einmal gesagt, ihr Vater hatte für alle - aus seiner christlichen Grundhaltung heraus und aus Nächstenliebe - Verständnis und setzte sich trotz ihres Benehmens für die Geflüchteten ein, wo immer er konnte, nur sie - seine Tochter - wollte er nicht verstehen und auch nicht sehen. Sie sollte zurückgehen zu ihrem Mann, denn da gehörte sie - seiner Ansicht nach - hin. Eine Scheidung konnte es - nach seiner Meinung - nicht geben. Und sie hatte ihn und auch die Mutter vor ihrer Heirat nicht um Erlaubnis gefragt.
Durch liebe Menschen aus der Stadt fand Agnes nach einigen schlimmen Monaten wieder eine Anstellung. Nach einem guten Arbeitsanfang schlug die Stimmung einige Zeit später um und verschlechterte sich für sie so sehr, dass sie von sich aus die Arbeitsstelle kündigte. Warum man sie plötzlich so schlecht behandelte, wusste sie nicht. - Sie war wieder arbeitslos. Sie war wie eine Getriebene.

12.2 Steckte ihr geschiedener Mann dahinter?
An einem herrlich sonnigen Maientag ging sie früh los, um am frühen Vormittag bei der Lehrerfamilie anzukommen und dann - vielleicht - mit der Frau in Ruhe reden zu können. Es gelang. Hier erfuhr sie Folgendes: Agnes geschiedener Mann hatte mit einem Sohn, der inzwischen auch Lehrer geworden war, ihren Ehemann in der Schule aufgesucht und ihm mit Nachdruck klar gemacht, dass er Agnes, als seine geschiedene Frau, nicht länger als Haushaltshilfe beschäftigen dürfte, ohne seinen Leumund zu beschädigen. Und sein Sohn würde sonst das Schulamt einschalten. Das hatte gewirkt und so kam es zu dieser fristlosen Kündigung. Sie - die Lehrersfrau - konnte ihren Mann nicht umstimmen und bedauerte es sehr. Sie habe sie richtig vermisst, beteuerte sie, aber ihr Ehemann dürfe von diesem Gespräch nichts erfahren. Die beiden Frauen verabschiedeten sich höflich distanziert. Agnes verließ das Haus, noch bevor der Herr Lehrer zu Hause eintreffen konnte. Sie war sehr niedergeschlagen. Auf der letzten Stelle, steckte der Kerl sicher auch dahinter. Aber was sollte sie machen? Sie war schutzlos. Als Frau hatte sie nichts zu melden. Zuerst bestimmten der Vater und dann der Ehemann über sie, so war das. In den 20-er Jahren war es besser: Die Weimarer Republik gab Frauen mehr Rechte, so meinte sie und sie verehrte Friedrich Ebert, immer noch. Sie konnte nicht verstehen, wie das alles kommen konnte. Und jetzt dieses unsagbare Elend nach dem 2. Weltkrieg. Darüber durfte sie nicht nachdenken und dann ihr eigenes Los. Wo sollte sie hin, an wen konnte sie sich wenden. Fräulein Lange und auch Fräulein Sauerbier könnten ihr vielleicht helfen. Die Caritas half, wenn es möglich war, bei der Arbeiterwohlfahrt traf sie auch auf Verständnis.
Schlimm jedoch war es auf den Ämtern: Einwohnermeldeamt oder Arbeitsamt oder Sozialamt - wegen Josi - es war fast egal. Sie erfuhr dort fast immer Ablehnung! So wurde sie als arbeitsscheu und mehr oder weniger faul eingestuft und bezeichnet. - Widerrede, zwecklos!
27.06.2021 p

 

13. Agnes irrt umher, quer durch das besetzte Deutschland

Agnes hält es in dieser Sippe und der Gegend nicht mehr aus. Sie macht sich auf die Walz, fast ziellos. Irgendwo wird es auch einen Platz für sie geben und vielleicht sogar eine gute Arbeitsstelle. Ihre Eltern werden für Josi sorgen, so lange sie leben, das haben sie zugesichert und darauf kann sie sich verlassen, denn „abgemacht ist abgemacht“, die Beiden sind zuverlässig. Sollten sie eines Tages nicht mehr können oder nicht mehr da sein, dann kommt Josi in ein Heim, fertig.

Agnes verschwand ohne Abschied. Sie war in Passau, furchtbar!
Diejenigen, mit denen sie dort zu tun hatte, hielt sie für borniert, also für eingebildet und dumm, somit für gefährlich. Ihre Kurzfassung: „Mit denen ist nicht gut Kirschen essen“, das war´s! Und bloß schnell weg!
Im Osten dagegen sah sie große Armut, manche Menschen jedoch hörten auch ihr zu, konnten zwar nicht helfen, waren aber trotzallem bereit, das Wenige, das sie hatten, mit ihr zu teilen. Politisch war es schwierig, es herrschten große Unsicherheit, Vorsicht und Angst. Niemandem war zu trauen, das verstand sie sehr bald. Den Sowjets ging man besser aus dem Weg, sobald man sie gewahr nahm, das war eine Grundsatzregel, die auch Agnes befolgte. Hier konnte sie nicht länger bleiben, auch nicht bei entfernten Verwandten. Sie musste weg!
Agnes fuhr nach Berlin. Die von den Siegermächten in Sektoren eingeteilte und besetzte Stadt war so zerstört wie das Ruhrgebiet, so viele, viele arme Menschen, so viel Elend. Der Anblick war für sie schwer zu ertragen. Der Schutt war zwar weitgehend beseitigt, die stehengebliebenen Mauer- und Häuserwandstücke ragten aber noch wie Stümpfe in den Himmel. Im fahlen Morgen- und Abendlicht empfand sie es besonders krass. Helfen konnte hier niemand niemandem mehr, was sollte sie da denn noch. Sie fühlte sich krank und kaputt.
Erneut machte sie sich auf den Weg, zurück in den Westen!
In Düsseldorf ging es ihr besser. Sie fand Arbeit in einem Frauenkloster. Die Bezahlung war dürftig, aber das Mansardenstübchen und vor allem das Essen waren gut. Hier konnte sie es aushalten, hier war es schön, an dem breiten Strom, dem Rhein. Plötzlich - nach über einem Jahr - sollte sie wieder gehen. Der Geistliche Rat, der für dieses Kloster zuständig war, wollte es so. „Weiß Gott - warum schon wieder.
24.07.2021 p

 

14. Schon wieder eine neue Arbeitsstelle

Wohin soll sie nun gehen? Wer hört sie an? Wer versteht sie? Wer kann helfen?
Die Cellerarin, die Agnes seit längerem beobachtet hat, steckt ihr unauffällig einen kleinen, unscheinbaren Zettel zu, eine Adresse im Zentrum Düsseldorfs, nahe der Kö.
Agnes packt das Wenige, was sie bei sich hat, wieder einmal zusammen und geht dort hin.
Ein älterer, gebrechlicher Herr empfängt sie. Nach einer kurzen Vorstellung stellt er sie als Haushaltshilfe mit den Worten ein: „Sie schickt wohl der Himmel.“. Es ist ein Geschäftshaushalt. Es gibt sehr viel zu tun, denn der alte Herr war bereits längere Zeit krank und sein Sohn war mit der Geschäftsübernahme voll ausgelastet und nicht in der Lage, sich auch noch um seinen damals schwerkranken Vater zu kümmern.
Agnes tut was sie kann. Die wenige Zeit, die ihr abends bleibt, nutzt sie vor allem zum Briefe schreiben.
Alma antwortet seit Monaten nicht mehr auf ihre Briefe und Ansichtskarten. Was ist da los? Haben Alma und Erwin sie etwa missverstanden?
Die Beiden wollten, dass sie bleibt, sie aber wollte „auf eigenen Füßen stehen“. Agnes wird unruhig, denn Alma ist ihre beste Freundin und das seit langer Zeit. Der ältere Herr bemerkt ihre Unruhe und wünscht, die Ursache zu erfahren. Er gibt ihr Sonnabend und Sonntag frei, so dass sie mit dem Zug nach Dortmund fahren kann.
Ehemalige Nachbarn erzählen ihr von Almas Tod. Alma ist an Schwindsucht gestorben und das recht schnell, so wie viele damals im „Kohlenpott“. Als Agnes das erfährt, wird ihr förmlich schlecht.
Erwin war kurz nach Almas Tod verzogen, vielleicht zu seinen Eltern, aber so genau weiß das keiner.
Agnes fährt umgehend nach Düsseldorf zurück. Der ältere Herr empfängt sie mit großem Mitgefühl und tröstet sie.
06.08.2021 p

 

15. Zeichnet sich für Agnes eine positive Wende ab?

Es läuft gut für Agnes. Der alte Herr und sein alleinstehender Sohn, der in seinem Geschäft, einem gutgehenden Friseursalon, nahezu aufgeht, sind zufrieden mit ihrer Arbeit und schätzen ihre zurückhaltende, diskrete Art.
Durch die Beiden lernt sie weitere, wohlwollende Menschen kennen, so den Leiter der ostpreußischen Landsmannschaft. Sie geht manchmal, wenn es ihr möglich ist, zu deren Veranstaltungen. Und Erinnerungen werden wach, aus ihrer frühesten Kindheit. An die Zeit als sie als kleines Mädchen - vor allem in den Sommermonaten - bei ihrer Oma war. In dem kleinen Haus am Fluss, dem Skirwyt, Kreis Heydekrug. Die Oma war die Mutter ihrer Mutter und sehr lieb und die Tante Ida war auch sehr lieb und sie war viel jünger als ihre Mutter und sehr lustig. Es wurde viel gesungen und gelacht. Die Arbeit war hart. Sie hatten Gemüse und Obst aus dem kleinen Garten am Haus geerntet, gesäubert und gebündelt und mit dem Boot nicht nur zu den umliegenden Ortschaften gebracht wie Ruß, auch über das Haff nach Schwarzort oder sogar nach Cranz. Für sie als kleines Mädchen waren solche Fahrten, manchmal mehrtägig, sehr aufregend und schön zugleich. Das alles ist schon lange her. Beide leben nicht mehr und alles ist sowieso vorbei. Ihre eigentliche Heimat wird sie nicht mehr wieder sehen, da ist jetzt „der Russe“. Und „Träume sind Schäume“, also „weg damit, aus und vorbei“, den schweren Fehler ihres Vaters wird sie nicht machen.
Der ältere Herr wird immer gebrechlicher. Er kann zu Hause von Agnes allein nicht mehr betreut werden. Er ist etwas älter als ihr Vater, aber bereits sehr hinfällig. Und sein Sohn bringt ihn kurzerhand in ein Pflegeheim, wo eine Rundumbetreuung gesichert ist. Agnes darf noch in seinem Junggesellen-Haushalt bleiben, bis sie eine neue Tätigkeit gefunden hat.
Es wird gesucht und sich umgehört. Annoncen werden gelesen und aufgegeben. Das Arbeitsamt, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, der Arbeitersamariterbund, die Kolpingfamilie, die Ketteler-Stiftung, die Landsmannschaft und viele mehr werden gebeten zu helfen. Zwecklos, kein Bedarf oder für sie völlig unakzeptabel, da obskur. Agnes ist erneut arbeitslos und es ist wieder Winter, da ist es noch schwieriger, etwas Passendes zu finden.
Sie fährt mit der Bahn zu ihren Eltern - mit großer Beklemmung, Was soll sie da eigentlich. Sie hofft, dort den Winter zu überstehen. Man wird sie nicht gerade hinauswerfen. Sie hat noch etwas Geld und Sachen, Wäsche, Kleidung, Schmuck von früher deponiert und kann vielleicht einiges versetzen oder ins Pfandhaus tragen. Vielleicht kann sie auch wieder mit ihrer Mutter zusammen alte Kleidung und Wäsche umändern und, wenn sie Stoff erhält, neue Kleider nähen.
Als sie eintrifft, leben einige der geflohenen Verwandten nicht mehr in der Wohnung. Es ist zwar ruhiger geworden, die Stimmung jedoch ihr gegenüber verhalten, fast gedrückt oder sogar feindselig? Ihre Tochter Josi sieht sie wie eine Fremde an. Josi läuft sofort zum Opa - Agnes Vater - und klammert sich an ihn, sobald Stimmen lauter werden. Der Opa ist Josis Einundalles. Sie kennt offenbar kein anderes Wort als „O p a“.
16.08.2021 p

 

16. N E I N

Kurz und bündig: Für Agnes läuft es nicht gut. Sie gilt als sonderbar, abweisend, verschlossen. Sie ist Einzelgängerin im wahrsten Sinne des Wortes. Sie taucht an Orten auf, wo sich normalerweise niemand hin traut und „spioniert herum“. Spricht jemand sie an, ist sie verschwunden. „Baggert“ sie jemand an, kann es sein, dass er flach liegt, denn sie hat eine Nahkampfausbildung. Vor allem umgibt sie ein Fluidum der Unnahbarkeit. In der Kleinstadt wird sie von fast allen gemieden. Agnes ist ein „Großstadtmensch“ - so fühlt sie sich und das sieht man ihr auch deutlich an. Wie sie schon aussieht, wie sie sich verhält. Sie trägt auffällige Kleidung und noch schlimmer: Sie liebt die Farbe r o t und das ist unglaublich herausfordernd. Selbst Josi trägt sonntags - unfreiwillig und widerwillig - ein rotes Hütchen. Andere Frauen - ob jung oder alt - tragen einfache, schlichte Kleider aus dunkelgemusterten oder geblümten Stoffen. Es wird getuschelt und verächtlich gelacht, selten sogar werden Beide - wenn sie zusammen gehen - dreist verspottet.
Josi versteht das alles nicht und schämt sich ihrer. Sie mag ihre Mutter einfach nicht und vermeidet mit ihr zusammen gesehen zu werden. Schon allein deshalb wie sie aussieht in dem roten Mantel und dem roten, verblichenen, alten, kaputten Hut. Der Mantel ist auch schon alt, abgeschabt, teilweise zerschlissen und ausgebleicht, verwaschen. Hässlich! Schrecklich!
29.09.2021 p

 

Agnes Gedanken und Monologen sind sehr verdichtet nachempfunden und nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt. Bilder, Notizen und Erzählungen liegen dem zu Grunde.
16.08.2021 p

 

 

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