Geschichten2

17. Josi erzählt

Im Folgenden erzählt Josi aus ihrer Sicht als sie noch ein kleines Mädchen von etwa 4 bis 9 Jahren war.

17.1 „Es ist Tante Agnes“
Es war kalt und nass. Manchmal kam die Sonne hinter dunklen Wolken kurz hervor. Mittagessen war vorbei. Oma, Opa, Tante Mariechen und ich waren noch in unsrer Küche, wo wir fast immer waren, wenn wir zu Hause waren. An der Wohnungstür klopfte es sehr laut. „Nanu, wer ist das denn?“ Ich sagte mit heller, sicherer Stimme: „Es ist Tante Agnes.“ Opa ging zur Tür und führte Tante Agnes in die Küche. Alle starten mich verdutzt an, ehe ein Begrüßungshallo ausbrach. Tante Agnes legte Hut und Mantel ab und ein Plätzchen - so groß wie ein Spekulatius - auf den Küchentisch. Ich war so groß, dass ich mit der Nasenspitze an die Tischkante reichte und es auf dem Tisch - ganz allein - liegen sah. Es hatte die Form eines Hühnchens. Dieses Plätzchen hatte sie mir mitgebracht. Für die anderen hatte sie nichts. Auch Tante Agnes kam von weit her und blieb viele Tage bei uns.
Ich weis nicht mehr, was mit dem Plätzchen geschehen war, ich hatte es jedenfalls nicht gegessen.
- Tante Agnes war die Cousine meiner Oma und stammte aus der Heimat meiner Oma und hatte einen sehr weiten Weg hinter sich. Sie kam aus Ruß und hatte zuletzt Monate in der „Ostzone“ gelebt. Ihr Sohn war noch dort und ihre Stiefkinder waren schon im Westen, am Rhein und dort hin zog letztendlich auch sie hin. -

17.2 Tante Mariechen
Eine sehr gute Freundin meiner Großmutter war Tante Mariechen und die kam schon lange vorher zu uns. Wann weiß ich nicht. Sie war immer da, wo auch Oma war, meinte ich. Da sie niemanden mehr hatte, blieb sie bei uns. Im mittleren Raum unserer Notwohnung, hinter einem Regal, das mit Eingemachtem gefüllt war, hatte sie eine Schlafecke eingerichtet bekommen, bestehend aus einem Metallbett und einem Kleiderregal, alles durch Vorhänge abgetrennt. Oma und Tante Mariechen arbeiteten vornehmlich im Haus und Garten, denn mein Opa war sehr viel unterwegs und half den Bauern und dafür bekamen wir manchmal Kartoffeln, Mehl, Rüben und sogar etwas Speck.

17.3 Flieger, Kondensstreifen und Christbäume
Tante Mariechen ging mit mir von der Kirche aus in Richtung Marktplatz, da hörten wir Beide ein Flugzeug und schauten gen Himmel. Sie fing plötzlich an zu zittern und zeigte auf die Streifen - „Kondensstreifen“ - die ich interessiert betrachtete. Früher sei das sehr gefährlich gewesen und alle Menschen haben sofort ein Versteck aufgesucht, erklärte sie mir und erzählte auch noch etwas von „Christbäumen“. So richtig verstanden hatte ich das, was sie erklärte, damals nicht. Wir gingen stumm nach Hause. Ich glaube, sie hatte geweint.

17.4 Ratet was es war, ihr kommt nicht drauf
Tante Mariechen war sehr fromm. Sie ging jeden Morgen in die „heilige Messe“. Eines morgens kam sie kurz, nachdem sie das Haus verlassen hatte, um in die Klosterkirche zu gehen, völlig aufgeregt zurückgehastet. Oma machte gerade unser Frühstück. Es war schwer, aus Tante Mariechen etwas heraus zu bekommen. So viel dann aber doch: Im Weihwasserbecken am Nebeneingang der Kirche hat etwas gezappelt. „Und Du hast nicht geguckt, was das ist, Mariechen?“ hörte ich Oma energisch fragen. Oma ließ alles stehen und liegen, zog den Mantel an, nahm ihren Hut und ging zur Klosterkirche. In dem Weihwasserbecken saß eine kleine Fledermaus und schaffte es nicht von allein herauszukommen. Oma befreite die Fledermaus und setzte sie hinter den Hochaltar. Am nächsten Tag schaute sie nach, die Fledermaus war weg. Genaueres über Tante Mariechen erfahrt ihr später.

17.5 „Der eiserne Vorhang“ - Stalin - die Russen
Ich war etwa fünf oder sechs Jahre alt, da prägte sich mein politisches Weltbild auf eine etwas sonderbare Art und Weise. Ursache dafür waren aufgeregte Diskussionen in unserer Küche. „Eiserner Vorhang“ Pah! Ein Vorhang aus Eisen. Ein Vorhang aus Eisen ist hart, schwer und man kann ihn nicht wegziehen oder -schieben. Die Menschen können nicht mehr durch, unsere Verwandten nicht und Opa auch nicht mehr. Er wollte nämlich schon lange nach Ostpreußen zurück, davon aber später. Eisen war hart und Stahl war so was ähnliches, das wusste ich schon. „Hart wie Kruppstahl“ sollte auch ich werden, daran wurde gearbeitet. Für diesen „Eisernen Vorhang“ war Stalin verantwortlich, sagten alle. Ich dachte, der Stalin heißt so, weil er ein Mann aus Eisen oder Stahl oder so etwas ist, auf jeden Fall, er ist sehr, sehr hart, ganz hart. Dieser Stalin heißt Joseph, so wie mein Vater. Er war aber kein Deutscher, er war ein Russe und ganz furchtbar böse. Meinen Vater kannte ich nicht; der war Deutscher und vielleicht nicht ganz so böse.
Über den Russen („der Russe“) sagte man sehr Böses, er ist bestialisch, sagten manche Leute. Nur Opa kannte Russen. Als Junge und junger Mann war er in Russland auf Bärenjagd gewesen. Das war aber schon sehr lange her. Und er sagte zu mir: „Die Russen sind nicht schlecht.“ Und manchmal ergänzte er nachdrücklich: „Die Russen sind nicht schuld. Es waren die Deutschen; sie haben Russland überfallen.“ Er nannte dann immer meinen Namen. Das machte er sonst selten, nur dann, wenn er mir etwas Wichtiges zu sagen hatte. Seine Worte hatten sich mir tief eingeprägt, ich konnte sie nie vergessen.
Bald lernte ich auch Russen kennen: Sie zogen in unsere Straße und Opa kümmerte sich besorgt um diese Familie. Er ging für diese Menschen zum Bürgermeister, zum Müller, Bäcker und auch zum Metzger, damit sie überhaupt etwas zu Essen und ein paar Sachen zum Anziehen bekamen. Die Wohnung war noch schlimmer als unsere Notwohnung. Im Zimmer standen große Töpfe und Schüsseln auf dem Boden herum, in die das Wasser lief, wenn es regnete oder wenn Schnee auf dem Dach taute. Die Frau hieß Sonja und war eine echte Russin. Wenn sie erzählte, wie sie früher in ihrer Heimat gelebt hat, hörte ich ihr gerne zu. Sie stammte von einem sehr großen Bauernhof mit vielen Bediensteten, diesen Hof nannten sie „ein Gut“ und dort hatten sie zu Ostern und anderen Festtagen einen Kuchen mit 100 Eiern gebacken; das konnte ich mir kaum vorstellen, aber ich glaubte ihr. Frau Sonja hatte die „Schüttelkrankheit“. Wenn sie mir gegenüber saß, konnte ich nicht weg sehen, denn ihre schweren, goldenen Ohrringe, mit den großen, tiefroten Rubinsteinen schwangen immer im Takt mit. Der Mann war Deutscher und Stalin hatte ihn mit seiner Familie aus Russland hinausgeworfen, so war´s höchst wahrscheinlich.
Die Familie sprach auch deutsch, aber etwas anders als wir. Aber wir sprachen auch anders, als die anderen Leute in der Stadt, die wir kannten.
Im Kindergarten war es nochmal anders.
24.10.2021 p

 

18. Wie wir so lebten

18.1 Opa kann alles, Opa macht alles
Das Leben in unserer Notwohnung war beengt. Manchmal reparierte Opa etwas, so gut er konnte. Er tapezierte die Wände mit alten Zeitungen und einer Mehlpampe als Kleister. Wenn er Wandfarbe bekam, wurden die Wände auch noch angestrichen. Es sah komisch lustig aus.
In dem langen, schmalen Flur hatte er mir auch noch eine Schaukel angebracht. Ich konnte schaukeln, wenn keiner dadurch gehen musste. Ich konnte hoch schaukeln, bis zur Flurdecke.

Wir hatten einen Garten in einem Tal an einem Bach vom Müller gepachtet und so gab es immer zu tun, aber wir hatten zu essen, nicht üppig, doch im Sommer recht abwechslungsreich.
Auf dem Grundstück des Müllers, hinter deren Bauerngarten zwischen dem Bach und dem abgezweigten Mühlengraben errichteten der Müller mit meinem Opa zusammen ein Bienenhaus, groß und schön. Viele Bienenvölker hatten darin Platz. Jedes Volk hatte einen andersfarbigen Kasten.

18.2 „Der Bienenkönig“
Opa war ein recht bekannter Imker und wurde von den Bauern gerufen, wenn es Probleme mit Bienen gab, vor allem, wenn sie im Frühling schwärmten. Er wusste in den meisten Fällen, was zu tun ist und hatte auch die entsprechende Ausrüstung: Hut mit Sichtschleier, Räucherpfeife, Handschuh mit langen Stulpen. Er besaß die Geräte und das Werkzeug, um Wachs in dünne Platten zu pressen und in die Holzrähmchen zu montieren. Eine Honigschleuder war natürlich auch in seinem Besitz und Steinguttöpfe, in denen der frisch geschleuderte, noch flüssige Honig aufgefangen und gelagert wurde. Zum Verkauf wurde er dann in spezielle Honiggläser mit Imkerzeichen abgefüllt und der Deckel wurde mit einer Papierbanderole versiegelt. Er hatte, als Profi-Imker, ja nicht nur eine Sorte, sondern recht viele verschiedene Honigsorten anzubieten, wie Lindenblüten-, Tannen-, Hedrich-, Klee-, Lupinen-, Wiesenblumenhonig und gemischten Honig - nur für uns - um nur wenige zu nennen. Auch das Züchten von Bienenköniginnen gehörte zu seinen Aufgaben. - Nach seinem Tod 1958 erfuhr ich von einigen guten Menschen aus der Stadt, dass er Vielen nur als „der Bienenkönig“ bekannt war.-

18.3 Verwertet wurde alles
Seine Arbeiten habe ich bereits als ganz kleines Mädchen gerne und aufmerksam verfolgt und auch schon sehr freiwillig kleine Beiträge geleistet: indem ich beispielsweise Nägel von der Straße aufhob, auch wenn sie krumm waren und ihm zum Geradeklopfen brachte. Schrauben und Muttern sammelte ich ebenfalls. Alles was ich auf der Straße fand, trug ich zu meinem Opa, manchmal sogar kleine Münzen. Opa konnte alles gebrauchen. Auch Stofftaschentücher wurden von der Straße vorsichtig aufgehoben, wenn es möglich war, irgendwie verpackt, in Zeitungspapier o. ä. und zu Hause in einem kleinen Topf, der mit Lauge gefüllt wurde, auf dem Kohlenherd ausgekocht. Dann wurden sie noch intensiv ausgewaschen und so heiß wie möglich gebügelt, damit „das Bazillus“ kaputt ging.
Auch Zigarettenstummeln wurden aufgehoben, der Tabakrest ausgekratzt und aufbewahrt, denn Tabak war ein begehrtes Tauschobjekt.
Manchmal bekam Opa, wenn er von Bauern geholt worden war, um einen Bienenschwarm einzufangen oder auf dem Markt beim Verkauf ihrer Äpfel, Kartoffeln und anderer Feldfrüchte und Gemüsesorten geholfen hatte oder mit dem Apotheker lange zusammen gesessen hatte, auch eine Zigarre geschenkt, diese Zigarren bewahrte er in eine hölzerne Zigarrenkiste, in der untersten Schublade seiner Kommoden sorgfältig auf.

18.4 Wie bei feinen Leuten
Opa selbst rauchte nicht, keiner bei uns rauchte. An hohen Feiertagen und manchmal sonntags, wenn es bei uns ganz gemütlich war, bettelten wir: „Opa, rauch doch mal eine“. Wenn er sich schließlich überreden ließ, wählte er lange eine der geschenkten Zigarren aus dieser Zigarrenkiste aus. Manche Zigarren hatten „Bauchbinden“, die nahm er nicht. Er entschied sich meistens für eine schlichte. Es war dann ein sonderbarer und fremder Geruch im Raum, wir fanden ihn aber alle schön und genossen es, besonders ich, denn es war so vornehm. Später erführ ich, dass die Zigarren sehr beliebte Tauschobjekte beim „Schachern“ waren.
Opa besaß auch Schnupftabak, woher weiß ich nicht. Er schnupfte gern, vor allem mit anderen Männern zusammen. Sie standen da und schnieften und ich stand manchmal erstaunt und interessiert daneben. Ich erschrak fürchterlich, wenn einer der Männer laut prustete und nieste, das war fast jedes Mal so, auch wenn ich es schon kommen sah. Bei solchen Schnupfrunden bot jeder der Herren auch mal dem andern von seinem Tabak an. Opa hatte eine wunderschöne Schnupftabakdose, sie war aus Silber, hieß es. Die andern Herren hatten ähnliche Dosen, doch die von meinem Opa war die schönste. Irgendwann war die Dose nicht mehr da. Zu vermissen schien sie aber keiner. - Es wurde sehr vieles „versetzt“, vielleicht auch diese schöne Schnupftabakdose.

18.5 Versetzen, Hamstern und Hausieren
Viel war nicht mehr zu Versetzten. Wir hatten kaum etwas, was begehrt war. Außer Honig, selbst gedrehte Zigaretten, gerade geklopfte Nägel, gefundene und brauchbar gemachte Gegenstände, dann und wann mal eine Zigarre, Handschuh und sonstige Sachen, die Oma strickte und Wäscheteile von früher oder ausgebesserte Kleidung und Wäsche. Und was wir erübrigen konnten. Meine Mutter hatte ihre noch verbliebene Aussteuer „versetzt“. Vieles war während des Krieges verbrannt oder verloren gegangen, manchmal auch gestohlen worden. Vieles war aber auch schon so alt, dass es nicht mehr ausgebessert werden konnte, weil in Möbeln „der Holzwurm schon ganze Arbeit geleistet“ hatte.
Wir waren also sehr arm. Zu essen gab es nur das, was wir selbst angebaut, auf Feldern und in den Wälder gesammelt hatten oder von mitleidigen Menschen - meistens Bauern - geschenkt bekommen hatten. Wenn meine Mutter auch manchmal wieder bei uns war, ging sie regelmäßig „hamstern“. Sie war ja noch „jung“ und konnte weit laufen. Wenn sie nach Hause kam, gab es für mich oft ein leckeres „Hasenbrot“ mit gut riechender und schmeckender Wurst darauf - Hausmacherwurst von den Bauern - manchmal war auch ein Griebenschmalzbrot dabei, das mochte ich auch für mein Leben gern. Was sie sonst noch mitbrachte, habe ich gar nicht so mitbekommen. Manchmal ging sie wohl auch Hausieren, aber das konnte sie nicht so gut. Hausierer waren meistens Männer. Du konntest sie erkennen, denn sie trugen Kiepen auf dem Rücken oder einen Kasten vor sich - einen Bauchladen. Sie zogen von Haus zu Haus und verkauften Selbstgemachtes und handelten mit kleineren Haushaltsgegenständen, z. B. mit Bürsten, Kämmen, Schnürsenkel, verschiedenen, farbigen Garnen, Messern, Scheren, Kochlöffeln und vieles mehr. Manche zogen sogar mit großen Teppichen umher und boten sie den Leuten zum Verkauf an.

18.6 Freibank und Pferdeschlachthof
Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, wenn es auf der Freibank etwas gab. Mutter, Oma und Tante Mariechen rannten sofort hin, um auch ein Stückchen Fleisch für uns alle zu ergattern, Fleisch von einem verendeten oder notgeschlachteten Haustier, meistens Rind und Schwein, seltener Pferd. Dieses Fleisch wurde gründlich gewaschen, mit Salz abgerieben und wieder gewaschen. Trotzdem roch dieses Fleisch manchmal nicht gut, wenn es gekocht oder gebraten wurde. Oma versuchte durch Kräuter und andere Gewürze die schlechten Gerüche zu überlagern. Wir aßen alle ein bisschen davon, denn es war ja auch nicht viel da, und ich glaube, es ist auch nie etwas passiert, es ist keiner von uns danach krank geworden. Dieser unangenehme Geruch ist mir manchmal heute noch in der Nase und dann kann ich nichts von dem Essen anrühren.
Es gab einen Schlachthof eigens für Pferde. Ich sträubte mich, da vorbei gehen zu müssen, denn, wenn sie schlachteten, floss das Blut auf die Straße hinaus durch die Gosse ab. Manchmal kauften wir Pferdefleisch aus einer Pferdemetzgerei. Dieses Fleisch mochte ich absolut nicht, denn es hatte einen komisch süßlichen Geschmack.

18.7 Kartoffeln
Zum Überleben diente auch der Anbau von Kartoffeln. Wir durften zwei sehr lange Reihen an einem Feld entlang - oberhalb des Baches auf einem Hügel - mit Kartoffeln bepflanzen und diese im Herbst ernten. Mir schienen diese Reihen unendlich lang, denn als kleines Kind musste auch ich mithelfen, die Kartoffeln aufzusammeln und zu sortieren. Opa experimentierte mit blauen, rosa, gelben und weißen Kartoffeln. Es ging dabei um ertragreiche und geeignete Sorten für den Boden und das raue Höhenklima. Er war überhaupt sehr experimentierfreudig und stellte auch - neben seiner Bienenzucht - Schnäpse und Aufgesetzte von Beerenobst her, um Tauschartikel zu haben und so für unser aller Überleben mit sorgen zu können.

18.8 „Was bewegt sich denn da?“
Als ich da so auf dem Boden des Kartoffelfeldes saß und die dicken Kartoffeln heraussuchte und immer weiter vorrutschte, bewegte sich plötzlich ein Büschel Heu und Stroh. Eine große Maus kam hervor und hatte in ihrem Maul ein kleines Mäuschen, ihr Kind und lief damit weg. Sie kam nach einer Weile zurück und trug ihr nächstes Kleines davon und das machte sie immer wieder. Ich weiß nicht, wohin sie die Mäuschen trug und wie viele es waren und wie lange es dauerte. Es kam mir sehr, sehr lang vor und ich verhielt mich die ganze Zeit ganz still und hatte auch nicht viele Kartoffeln heraussortiert. - Dafür wurde ich nicht gerügt, denn auch die Anderen hatten das teilnahmsvoll beobachtet.
28.10.2021 p

 

19. Die Flüchtlinge

19.1 Das beengte Leben
Ich war noch ein kleines Mädchen. Eines Tages kamen sehr viele Leute zu uns: Oma Rosalie und ihre beiden Töchter mit drei Enkelkindern, die älter waren als ich. Sie alle waren aus Ostpreußen geflohen, hatten uns gefunden und sammelten sich sozusagen bei uns. Unsere Adresse war zur Anlaufstelle für die Verwandten, besonders für die meines Großvaters geworden. Alle wurden, so gut es ging, aufgenommen. Unsere „Notwohnung“ war voller Menschen.
Für mich war tagsüber nur ein kleines Eckchen zwischen Küchenschrank und Chaiselongue freigehalten, da konnte ich fast ungestört spielen. Ein weiteres Plätzchen, das ich mir erobert hatte, war unter dem Küchentisch nahe der Wand. Da war ich vor ungewollten Fußtritten aber nicht ganz sicher.

19.2 Oma Rosalie
Oma Rosalie war eine Kusine meines Großvaters. Sie war Gutsbesitzerin - sozusagen Großgrundbesitzerin - gewesen und führte sich zeitweise bei uns auch entsprechend auf. Schon früher, in ihrer alten Heimat, war sie für ihre Allüren bekannt. Es wurde erzählt, sie habe nie gearbeitet. Die Arbeiten auf dem Feld, in den Ställen und auch im Haus hätten ihr Mann, ihre Kinder und das Gesinde verrichtet und sie sei im Zweispänner - oder sogar im Vierspänner – „Zigarre rauchend durch Kaukehmen“ kutschiert und habe sich bewundern lassen.
Man könnte meinen, dass es nach der Flucht für sie anders gekommen sei, sie musste sich zwar räumlich und auch sonst stark einschränken, aber die harte Arbeit haben wieder andere leisten müssen. Das war eben so. Bald bekam sie eine kleine Wohnung, mitten in der Stadt, die sie mit einer Tochter und ihrem Enkel teilen musste.
Ihre zweite Tochter bezog mit ihren beiden Kindern eine Kellerwohnung hinter dem „Judenfriedhof“. Bettzeug und Wäsche erhielten sie größten teils von uns. Nach kurzer Zeit waren die Sachen stockig und es roch sehr muffig in diesem „Kellerloch“, so wurde diese Wohnung immer von uns bezeichnet.
Zu uns kamen sie alle, wenn sie etwas brauchten. Einer der Gründe war, dass meine Oma eine Singernähmaschine mit Tretantrieb besaß. Das war ein gewisser Luxus, denn viele Haushalte hatten, wenn überhaupt, eine Maschine mit Handkurbel. Bei uns wurde also genäht, viel genäht. Wartungsarbeiten blieben immer an meiner Oma hängen. Stundenlang war sie mit säubern und reparieren der Maschine beschäftigt, was sie nicht so gerne tat. Das lief immer so ab. Die Nähmaschine gehörte ja ihr, also war auch sie dafür zuständig und sie kannte die Maschine am besten, so redeten sie sich heraus. Irgendwann wollte Oma sie nicht mehr mit der Maschine nähen lassen. Das gab Stunk. Die jüngere Tochter sah das gar nicht ein und war dann meistens für Wochen, manchmal sogar für Monate eingeschnappt. So gab es wegen vermeidbarer Nichtigkeiten oft heftigen Streit. Ich verkroch mich meistens, denn Streit mochte ich überhaupt nicht.

19.3 Abgesprengte Finger
Einer der Enkel von Oma Rosalie war ein rechter Haudegen. Zwar wurde die Bevölkerung, speziell die Kinder und Jugendlichen, immer wieder gewarnt, keine herumliegende Munition anzufassen; ihn jedoch und seine Freunde scherten diese Warnungen überhaupt nicht, sie nahmen alles, was sie fanden, mit. Plötzlich war es passiert: Eine Handgranate war explodiert und hatte ihm mehrere Finger und den Daumen seiner rechten Hand weggerissen. -Unter seinem Bett wurde dann eine ganz beachtliche Munitionssammlung entdeckt.- Nach Monaten war seine Hand, mit den Fingerstummeln wieder verheilt und er konnte danach sogar eine Lehre als Setzer in einer Druckerei beginnen.

19.4 Wir - die armen Verwandten
Bald hatten sie alle aber viel Geld, wesentlich mehr als wir, denn wir waren und blieben arm. Als Oma Rosalie Anfang der 50-ger Jahre starb, nahm von unserer Familie nur ich am „Leichenschmaus“ teil. Warum, darüber kann ich nur spekulieren. Es hieß, ich solle „mal wieder etwas zwischen die Rippen bekommen“. Unter den Kindern der Verstorbenen - es waren noch ein Sohn und eine weitere Tochter hinzugekommen - gab es am Beerdigungstag beim Mittagessen einen schlimmen Streit, um Geld, es ging um viel Geld und gestohlene Schmuckstücke. Alle beschuldigten sich gegenseitig. Unter der Matratze der Oma Rosalie soll viel Geld und Schmuck gehortet gewesen sein.
Ich ließ das gute Essen stehen, obwohl ich ausgehungert war und lief nach Hause, denn Gezänk und Streitigkeiten konnte ich - wie bereits erwähnt - nicht gut ertragen, davon gab es bei uns zu Hause schon gerade genug. - Appetit hatte ich nach einer Beerdigung auch nicht.
Die Töchter kauften sich sehr bald große Stadthäuser in einem bekannten Ort nahe des Rheins. Für kurze Zeit danach gab es noch einen Briefwechsel, dann aber waren wir vergessen.
Sie lebten in Saus und Braus und hatten dann alles verloren und das war bitter. - Wir hatten nichts und konnten daher auch nichts verlieren.“ Wir waren und blieben „die armen Verwandten“.
07.11.2021 p

 

20. Kampf ums Überleben

20.1 Leben mit und von der Natur
Es gab das ganze Jahr hindurch viel zu arbeiten, allein schon deshalb, um einigermaßen leben zu können. Wir hatten den Garten und zogen dort verschieden bunte Bohnen, Erbsen, Möhren, mehrere Sorten Zwiebeln und allerlei Kräuter und Salate. Auch Pflaumenbäumchen und viele Beerensträucher standen vor allem in der Nähe eines kleinen Bienenhauses und des Gartenhäuschens, ein kleines, selbstgebautes, sehr gemütliches Blockhaus.
Neben der Stricktätigkeit arbeiteten Oma und Tante Mariechen im Haus und im Garten oder suchte im Frühjahr und Sommer Wildgemüse, Kräuter und Beeren. Ich war natürlich - sobald ich laufen konnte - dabei und ich half schon so gut ich konnte mit. Wir sammelten alles. Im Frühjahr wurden Brennnesseln und „Jeselchen“ als Gemüse, Huflattich, Schachtelhalm, Birken-, Erdbeer- und Johannisbeerblätter sowie Holunderblütendolden gesammelt, für Tees und die hellgrünen Fichtentriebe auch für Tee und für einen Aufgesetzten. Im Sommer sammelten wir Johanniskraut, Kamille, Minze, Schafgarbe, Thymian, Hirtentäschel, Himbeeren, Holunderbeeren und Blaubeeren. Und Sauerampfer, den mochte ich gern als Sauerampfersuppe, aber auch so frisch von der Wiese. Im Herbst pflückten wir Hagebutten, Preiselbeeren und im Spätherbst, nach dem ersten Frost Schlehen für Marmelade und auch für Aufgesetzten. Bucheckern sammelten wir für Öl, Eicheln für Kaffee und vieles mehr.
Natürlich wurden auch Pilze gesucht, aber nur die, die wir mit absoluter Sicherheit kannten: Das waren vornehmlich weis-rosa Champignons von Pferdeweiden, helle Birkenschwämmchen, ockerfarbige Pfifferlinge, dottergelbe Ziegenbärtchen und dunkelbraune Steinpilze in den Wäldern. Alles musste sorgfältig verarbeitet werden. Ziegenbärtchen waren besonders schmackhaft, mussten aber vor dem Braten von den Fichtennadeln befreit werden, eine mühevolle, zeitraubende Aktion.
Auf Zeitungen wurden die Kräuter zum Trocknen ausgelegt. Da in den Räumen dafür kein Platz war, lagen die Kräuter unter den Betten, auf freigeräumten Regalbrettern und Schränken aus. Waren die Kräuter getrocknet, wurden die Blätter von den Stängeln abgestreift und in eigens dafür genähte Säckchen aus Nessel gefüllt, die luftig aufgehängt wurden. So hatten wir im Winter genügend Tees zum Trinken und auch als Heilmittel gegen alle möglichen Erkrankungen und Zipperlein. Aus den verschiedenen Beeren wurden Marmeladen hergestellt oder Saft gewonnen und daraus auch Gelee gemacht. Das Gartengemüse wurde eingelagert oder in Gläsern eingeweckt. Mit den Johannis-, Stachelbeeren und Gartenhimbeeren wurde so wie mit den Wildbeeren verfahren.
Oma nannte auch Pflanzennamen - wie Karnel, Rauke, Zichorie, dient geröstet auch als Kaffee, Zitronenmelisse - die mir als Kind alle nichts sagten. Diese Pflanzen lernte ich Jahre später als Erwachse unter anderen Bezeichnungen kennen und schätzen.

20.2 Omas medizinische Künste
Oma kannte sich in vielen Dingen gut aus. So wusste sie auch über die Wirkung der gesammelten Heilpflanzen Bescheid, die getrocknet als Tees und verschiedene daraus zubereitete Aufgüsse verwendet wurden. Vor allem wusste sie, was zu tun war, wenn einer von uns krank wurde oder bei Verletzungen. Auf meine Schürfwunden an den Knien oder Ellenbogen legte sie ein mit Honig dick bestrichenes Baumwollläppchen auf und dann gekonnt einen Verband an. In den ersten Jahren nach dem Krieg waren es lange Streifen aus fast zerschlissenen Baumwollbetttüchern, später hatten wir auch Mullbinden. Nach ein bis zwei Tagen wurde der Verband gewechselt. Um das Läppchen von der Wunde zu lösen, wurde es mit Öl beträufelt bis es durchgeweicht war und sich leicht ablösen lies, was aber nicht ganz schmerzfrei vonstatten ging. Die Wunden waren mit Hilfe dieser Behandlungsmethode sehr sauber und auch recht schnell narbenfrei verheilt. Ich war etwa sechs Jahre alt, da hatte ich mir mit einer Schieferplatte den Handballen aufgeschnitten. Es war eine stark blutende, klaffende Wunde. Schreiend rannte ich nach Hause. Oma erkannte die Situation sogleich und drückte die klaffende Wunde so geschickt zusammen und verband sie, so dass heute nur noch eine ganz dünne Narbe, wie ein feiner Strich, zu sehen ist. Hatte ich eine Beule am Kopf, was häufiger vorkam, legte sie sofort einen kalten Gegenstand auf, meistens ein Messer und die Schwellung ging zurück.
Die Sonne schien und es war sehr warm. Mir ging es schlecht. Ich hatte hohes Fiber. Oma nahm mich am Nachmittag an die Hand und ging mit mir zu dem nahegelegenen Wäldchen. Wir gingen gaaanz langsam. Dort angekommen, legte sie mich auf eine Bank und ich schlief ein. Als ich aufwachte, standen Kinder vor mir und luden mich zum Spielen ein. Und siehe da, wie durch ein Wunder stand ich auf und rannte mit denen herum. Ich fühlte mich zwar noch etwas schlapp aber wieder gesund. Zu Hause angekommen, bekam ich Tee zu trinken und etwas zu essen und musste sofort wieder schlafen.
Wegen solcher Dinge gingen wir nie zum Doktor. Es hätte schon etwas Schlimmes sein müssen.

20.3 Kinderkrankheiten
Mutter ging mit mir aber regelmäßig zum Kinderarzt in der Gartenstraße. Der war ein junger, freundlicher Mann und sehr fürsorglich, ich hatte keine Angst vor ihm. Wenn wir zum „Onkel Doktor“ gingen, wurde ich fein gemacht. Ich hatte ein grün gemustertes Blüschen, ein dunkelgrünes Trägerröckchen an und einen kleinen, roten Elefanten als Brosche angesteckt bekommen. Und das zeigte ich ganz stolz und er bewunderte alles. So waren er und ich uns immer einig.
Schlimm fand ich hingegen den Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Er wohnte in der Bahnhofstraße. Seine Behandlungen waren grauenvoll und ich musste dabei auch noch selber eine nierenförmige Blutschale halten. Er hatte mir in mehreren Sitzungen Polypen aus der Nase entfernt und auch die Mandeln geschält. Mutter musste mich dann immer auf ihren Armen nach Hause tragen. Als das geschah war ich noch nicht in der Schule.
Als ich etwa sechs Jahre alt war, war ich sehr krank. Ich war auf der Chaiselongue in unserer Küche gebettet, denn es war noch Winter. Die Vorhänge blieben auch am Tag zugezogen. Alle verrichteten wegen meiner ihre Arbeiten im Halbdunkel. Ich lag schon recht lange so da. Eines Tages kam die Nachbarin mit einer braunen Tablette zu uns, die sollte ich einnehmen. Ich spuckte die Tablette aus und sie hinterließ einen kleinen, braunen Kreis auf meinem gelb-blauen Kopfkissenbezug. Irgendwie hatten sie es aber geschafft, dass ich die Tablette schluckte. Es vergingen wieder Tage im Halbdunkel und dann bekam ich einen Hahn und eine Henne aus Gips geschenkt. Es hieß, es ist Ostern und mir ging es wieder besser.
Der kreisrunde, braune Fleck ging auch nach vielen Wäschen nicht mehr heraus und dieses gelb-blaue Kissen mit dem braunen Kreis begleitete mich noch viele Jahre lang.
Der Kinderarzt verschrieb mir eine tiefrote Flüssigkeit. Die wurde in das Badewasser, das für mich einmal pro Woche in einer Zinkwanne angerichtet wurde, geschüttet. Das Wasser färbte sich blutrot. Ich wollte nicht, schrie und sträubte mich gewaltig, wenn ich da hinein sollte. Wofür das gut gewesen sein sollte, habe ich nie erfahren. Ab und zu kam eine Gemeindeschwester zu uns, um nach dem Rechten zu sehen, dabei ging es vermutlich in der Hauptsache um mich und meine Gesundheit. Lebertran bekam ich verpasst, damit ich „groß und stark werde“. Und als Wurmkur Rheinfarn mit Rübenkraut - baaah, bitter, zum Schütteln - aber es half kein Gezeter und Geheul, der Brei musste runtergeschluckt werden. Anschließend wurde geprüft, ob und wie viele Maden oder Würmer noch lebten. Dass mich, als ich als ganz kleines Kind schwer erkrankt war, der „Viehdoktor“ wieder gesund gemacht hat, wisst ihr ja bereits.

20.4 Opa und Oma konnten alles
Opa arbeitete, wenn es das Wetter zuließ, im Sommer hauptsächlich draußen. Aber auch im Winter gab es im Freien einiges für ihn zu tun. Oma und Opa hatten einen „Leseschein“ und durften daher in den Wäldern Holz sammeln, meistens „Knüppelholz“, das waren dickere Äste und Zweige. Opa sägte und hackte das Holz und stapelte es. Die dünnen Zweige wurden auf eine bestimmte Länge gebracht und gebündelt. So hatten wir neben Kohlen einiges an Brennmaterial für den Winter. Die Feldfrüchte lagerte er sachkundig ein, repariere fast alles, was kaputt gegangen war oder bastelte aus fast Unbrauchbarem wieder etwas zusammen. Vor allem im Winter reparierte er Schuhe und half meiner Oma, Kleidungsstücke zu wenden. Die alten Kleidungsstücke wurde aufgetrennt und die Innenseite nach außen genäht. Manches Kleidungsstück sah dann wie neu aus. Manchen stark zerschlissenen Kleidungsstücken wurden die brauchbaren Stoffteile entnommen und ich bekam daraus dann eine kleine Jacke o. ä. genäht. Opa konnte auch Socken so stopfen, das man die Stelle danach kaum noch sah und es wie gestrickt aussah.
Als ich etwa fünf Jahre alt war, hatte Opa mir kleine Holzpantinen fertiggemacht. In denen musste ich im Sommer laufen. Sie machten beim Laufen „klapp, klapp, klapp, ...“ und hießen daher „Klepper“. Eines Tages gingen Oma, Tante Mariechen und ich den weiten Weg zum Garten, als unterwegs die Lederriemen dieser Klepperchen rissen und ich nicht mehr richtig laufen konnte. Kurzer Hand setzten die beiden Frauen mich in eine Ringeltasche, die sie bei sich führten, und trugen mich gemeinsam. So kamen wir zügig vorwärts. Opa, der bereits im Garten war, reparierte die Holzpantinen und ich musste auf dem Heimweg wieder in den „Klepperchen“ selber laufen.
13.11.2021 p

 

21. Ohne Mutter ist es auch ganz schön

21.1 Das „Röschenkleid“
Mutter war schön. Sie hatte ein Kleid an, das mir gefiel. Es war das „Röschenkleid“, aus einem dunkelgrundigen mit hellroten Röschen übersäten Stoff, wunderschön. Sie hatte dieses Kleid selbst genäht und Oma hatte ihr dabei geholfen.
Es war ein milder, sonniger Frühlingstag. Dieses Kleid trug sie mit einem gewissen Stolz. Leute waren gekommen und auch Verwandte, Oma und Opa waren natürlich auch da und ich. Alle herzten mich. Mutter war aber die Hauptperson; sie hatte Geburtstag. Und ihr Kleid bewunderten alle. Kuchen gab‘s und Met und Aufgesetzten. Es war feierlich, sogar schön.
Das Kleid habe ich danach nie wieder gesehen, es war weg.

21.2 Mutter geht ohne mich!
Wohin gehst Du? Nimm mich mit, Mutter, ich will mit!“ „Nein, ich kann Dich nicht mitnehmen, Du musst bei Oma und Opa bleiben!“ „Ich will mit Dir gehen, Mutter!“ „Lass mich los, Blage! Nein! Ich kann dich nicht mitnehmen.
Mutter öffnete energisch die Deelentür. Die Glocke über der Tür bimmelte lange nach. Mutter zog den mit Koffern beladenen Bollerwagen hinter sich her und verschwand. -Weinend stand ich da: „Warum? Warum nur? Warum nimmt sie mich nicht mit?“ Oma wusste keine Antwort, Opa sagte nichts. Ich war sehr traurig.

21.3 Die Synagoge
Als ich so traurig war, ging ich in einen schönen, stillen Raum, auf unserem Flur. Dorthin ging ich auch, wenn mit mir keiner spielen wollte oder das Wetter nass und kalt war. Es war die Empore der Synagoge. Hier war ich allein. Manchmal kamen eine oder gleich mehrere Katzen und ich konnte lange mit ihnen spielen. Katzen liebte ich sehr, sie waren so weich und anschmiegsam. Sie ließen fast alles mit sich machen, so gar in den Puppenwagen konnte ich sie legen und gut zudecken, wie meine Puppen. Besonders mochte ich, wenn die Katzen, die ich streichelte und lieb hatte, behaglich schnurrten.
Auf dieser Empore war ich besonders gern. Sie war vollgestellt mit allem Möglichen, aber die Decke war mit grünen Ranken und blauen Beeren bemalt, man sagte mir, dass es Weinreben seien; schön! Ein dunkles, geschnitztes Holzgeländer grenzte diesen Raum ab. Ich konnte durch das Geländer nach unter schauen.
Und unten tollten ein paar Schweinchen herum.

21.4 Nichts durfte ich
Mutter blieb wieder lange Zeit weg. Keiner wusste so recht, wo sie war. Nach einiger Zeit kamen dann Briefe, voller Besorgnis um mich. Oma und Opa sollten auf mich sehr gut aufpassen, denn es würden immer wieder Kinder entführt. Das hatte sie wohl gehört und ich sollte mit niemandem mitgehen. Gut, das tat ich sowieso nicht. Aber mit Elsbeth und der Magd ging ich gern die Kühe holen. Ich durfte es aber nicht und wenn Oma erfuhr, dass ich doch gegangen war, gab es, wenn ich wieder zu Hause angekommen war, Schläge. Sie wollten einfach nicht verstehen, dass ich auch - so wie die anderen Kinder - mitgehen wollte, wenn die Kühe zum Melken in den Stall geholt wurden.
Ich liebte Tiere, besonders auch Schweine, bis auf Hühner, die flatterten mir zu wild herum, wenn ich ihnen den Weg kreuzte oder auch mal nachlief.

21.5 Es roch so gut
Mutter war immer noch weg. Ich hatte sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr vermisst. Oma und Opa sorgten für mich. Besonders im Winter, wenn draußen Schnee lag, war es bei uns schön. Auf den Fensterscheiben waren Eisblumen entstanden. Manchmal waren die Fenster so dick zugefroren, dass auf die Fensterbank kleine Schneesternchen fielen. Oma hatte auf die Fensterbänke direkt vors Fenster eine dicke Rolle aus Lumpen gelegt, damit es nicht so zog und am Abend wurde eine dicke Decke über die Gardinenstange geworfen, um die eisige Kälte zurückzuhalten. Es nützte nicht viel, aber in Küchenherdnähe war es mollig warm.
Es wurde viel gekocht und manchmal auch gebacken. Besonders gern aß ich „Klunkersuppe“. Oma ließ dünnflüssigen Mehlteig in die kochende Suppe laufen und daraus wurden dann die Klunker, wenn sie gar waren. Hm, die schmeckten! Einmal in der Woche wurde auch gebacken. Wenn Kuchen gebacken wurde, bekam ich auch etwas Teig für meinen eigenen kleinen Kuchen. Waffeln gab es häufiger, sie wurden auch „Eiserkuchen“ genannt, weil das Waffeleisen - mit seinen fünf Herzchen - in die Herdplatte eingesetzt und nach einigen Minuten gewendet wurde, damit auch die andere Seite dieser Kuchen schön knusprig wurde. Opa machte „Bratbrotchen“: Er röstete eine Roggenbrotscheibe auf der Herdplatte und bestrich dann die geröstete Scheibe mit etwas Honig, das war sehr lecker.
Das waren unsere Leckereien, im Allgemeinen aber hatten wir sehr wenig Abwechslungsreiches zu essen. Meistens waren es Eintöpfe aus Kartoffeln, Bohnen, Möhren, Steckrüben, Kohlarten, Erbsen und Linsen. Sonntags gab es eingemachte Rotebeete oder Schnippelböhnchensalat als Beilage zu Salzkartoffeln, grünen Blattsalat hatten wir nur im Sommer. Und manchmal machte Oma Kartoffelklöße aus rohen Kartoffeln mit einer leckeren Sauce, die waren gut und sehr beliebt. Ganz selten gab es Fleisch, dann meistens Kleinteile, das waren Schweinsfüße, -ohren und Schweineschwänzchen und das z. B. in Graupensuppe oder auch als Sülze, Schweinskopfsülze. Freitags gab es Fisch. Käse konnten wir uns kaum erlauben, aber wir bekamen Milch vom Bauern, jeden Tag mindestens einen Liter. Eine Seite Speck hatten wir meistens auch. Der wurde für Bratkartoffeln oder auch in der „Klunkersuppe“ verarbeitet.
Ein Kuchen für die Kaffeetafel soll besonders erwähnt werden, der allseits beliebte Mohnkuchen, den Oma und Tante Mariechen hervorragend backen konnten. Den Mohnkuchen gab es nur an besonderen Fest- und Feiertagen im Herbst und Winter, da wir selber nicht viel Mohn hatten und es kaum welchen zu kaufen gab. In unserem Garten wuchsen ein paar wunderschön blühende Mohnblumen. Wir hatten verschiedene Sorten. Im Hochsommer - wenn ich Geburtstag hatte - wurden aus den getrockneten Kapseln die schwarzen Kernchen herausgeholt und wenn sie absolut trocken waren, in Dosen oder dunklen Gläsern aufbewahrt.
Vom Mohnkuchen bekam jeder nur ein kleines Stück und ich immer nur ein Kleinbisschen. Manchmal wurde auch etwas Mohn über Dampfnudeln oder Pudding gestreut.
Im Winter war es sehr gemütlich, weil alle zu Hause waren und es bei uns immer so gut roch. Opa schmolz Bienenwachs, presste daraus Waben und setzte sie in die selbstgefertigten Holzrahmen. Er war nämlich ein - im weiten Umkreis - bekannter Imker. Es kamen auch immer irgendwelche Leute zu uns, die irgendetwas von uns wollten. Oma strickte so bald sie dazu Zeit hatte. Sie konnte sehr schöne Muster stricken. Sie strickte sehr viel vor allem Handschuhe, Socken und Strümpfe aber auch Jacken, Mützen, Röcke zum Beispiel für mich und sogar Unterhosen. Die kratzten entsetzlich und ich brauchte sie bald auch nicht mehr zu tragen. Die Strickwaren tauschte sie gegen Speck und andere begehrte Lebensmittel oder auch Haushaltsgegenstände, Stoffe und Wolle ein. Opa konnte im Sommer Honig gegen wichtige Dinge tauschen. Für den Winter musste er die Bienen allerdings mit Zuckerwasser versorgen und Zucker war sehr teuer. Opa ging auch im Winter den weiten Weg zur Mühle, zu den Bienen, auch durch tiefen Schnee, um alles zu überprüfen.

21.6 Mutter ist wieder da
Im Winter tauchte dann auch oft meine Mutter wieder auf. Ich musste mich meistens erst wieder an sie gewöhnen. Sie war so anders. Wenn sie da war, gab es bald erbitterten Streit. Worum gestritten wurde, weis ich im Einzelnen nicht. Manchmal um Kleinigkeiten, glaube ich. Ich mochte nicht, wenn sie sich stritten und alle keiften, und verzog mich dann sobald es ging, auf die Synagoge und da war ich mit den Katzen alleine. Ich ging aber auch, wenn das Wetter gut und es draußen noch hell war, auf die Straße, um mit den Nachbarskindern zu spielen.
15.11.2021 p

21.7 War sie da oder war sie weg, es war fast egal
Früh morgens ging Mutter weg und kam wieder, wenn ich ins Bett musste. „Wo warst Du?“ „Ich muss arbeiten.“ „Was machst Du denn?“ „Ich trage Zeitungen und Hefte aus und mache auch Besorgungen für reiche, alte Leute.“ „Wo?“ „Wo, wo, mal hier mal dort.“ „Warum?“ „Ich bekomme Geld dafür oder auch Sachen, damit wir dann etwas zum Essen kriegen können.“ „Darf ich mit Dir mit kommen?“ „Nein, schlaf jetzt!“ „Warum?“ „Du musst jetzt schlafen, damit Du groß wirst und gesund bleibst.“ „Ich will mit.“ „Hör auf zu quengeln, ich kann Dich nicht gebrauchen, schlaf jetzt endlich.“ „Ich kann nicht schlafen.“ „Du schläfst jetzt, die Oma kommt gleich.“ So oder so ähnlich lief es nicht selten abends - wenn Mutter kam - ab.
26.11.2021 p

 

22. Oh, wie schön ist diese Zeit …

22.1 Es ist Martinstag
Opa hatte eine Papierlaterne für mich besorgt. Sie war bunt und geriffelt und auf dem Boden der Laterne war ein Halter für eine kleine, dünne Kerze. Ich ging zum ersten Mal mit dem Martinszug, so wie viele Kinder dieser Stadt. Als es dunkel war, ging es los. Natürlich war ich nicht allein im Zug, Opa nahm mich fest an die Hand. Das war sooo schön. Sankt Martin - mit seinem roten, weiten Mantel und der Bischofsmütze auf dem Kopf - saß auf einem stattlichen Schimmel. Und ich ganz nah dahinter, fast bei ihm. Das ging, weil Opa genau wusste, wie wir uns so dicht hinter einem Pferd zu verhalten hatten. Meine Laterne leuchtete, so wie die der anderen Kinder auch. Opa passte auf, dass die Kerze gerade stand und brannte, meine Laterne aber kein Feuer fing. Alle sangen und manche Lieder konnte ich auch schon mitsingen. Ich war überglücklich.

22.2 Das ist nicht der Nikolaus
Den Nikolaus hatte ich vorhin auf der Straße gesehen. Der Nikolaus kam aber nicht zu mir, es war wohl der Knecht Ruprecht, der da war. Es hatte sehr laut an unserer Tür geklopft. Oma führte einen dunklen Mann in unsere Küche. Er hatte eine Rute und schlug damit mehrmals auf den Küchentisch. Ich zuckte zusammen, ein bisschen Angst hatte ich schon. Eigentlich war ich fast immer brav und hatte nichts gemacht. Dieser dunkle Mann aber, dessen Kopf und Gesicht unter einer riesigen Kapuze verborgen war, machte mir einige Vorhaltungen. Singen sollte ich und das tat ich auch. Das gefiel ihm wohl und er gab mir eine dicke Apfelsine. Die war so schön und roch wunderbar. Sie war so groß wie der Kopf meiner Puppe, also sehr, sehr dick. Mutter konnte die Apfelsine so schälen und aufteilen, dass sie wie eine große Blume aussah. Alle, die da waren, bekamen ein Stückchen davon zu essen. Teilen war ich gewohnt.

22.3 Dezember 194?
Es wurde immer kälter und schnell dunkel. Wenn ich weit zum Fenster raus die Marktstraße entlang guckte, war der Himmel zwischen dunkeln Wolken blutrot. Staunend stand ich da, denn das war sehr schön anzusehen. „Das Christkind backt Plätzchen,“ hieß es. Opa war sehr damit beschäftigt, aus Pappe, manchmal auch dünnen Holzbrettchen, Sterne auszuschneiden und sie dann mit Ofenrohrfarbe silbern oder bronzen anzustreichen. Kleine und große Sterne, auch welche mit einem Schweif hingen dann an einer Schnur über dem Herd zum Trocknen. Für kurze Zeit stank es sehr, dann verflog sich aber der Geruch und es kamen neue Gerüche auf.
Aus Bienenwachs machte er auch viel und das nicht nur für seine Bienen. Er formte und zog Kerzen um einen dicken Docht herum. Diese Dochte stellte er selbst her und Oma half ihm dabei. Sie flocht die Dochtstränge vorher aus Baumwolle. Beide arbeitet gut zusammen, dann war es ganz still bei uns. „Sie halfen dem Christkind.“ War alles fertig, verschwand es in Kisten und Kartons. Sterne, Kerzen, alles war weg.
Auf dem Küchentisch lag ein großes Backblech, darauf kleine Figuren aus einer hellbraunen Masse aus Mehl, Honig, allerlei Gewürzen und „Hirschhornsalz“. -Das Wort gefiel mir, ich merkte es mir bald und stellte mir Komisches vor. Ein anderes Wort war „Bullrichsalz“, davon aber später.- Dieses Blech mit besagten Figuren wurde zum Backen in den Backofen unseres Küchenherdes geschoben. Bald roch es sehr gut in der Küche. Abwechselnd schauten Oma und Opa nach. „Sie sind fertig.“ Feuchte Tücher kamen auf den Tisch und das heiße Backblech oberdrauf. Oh, da war wohl etwas schief gegangen?! Auf dem Blech war eine braune Masse. Figuren waren nicht mehr zu erkennen. Opa wollte die Masse mit einem großen Messer in Stücke schneiden, es ging nicht. Was nun? Er holte Hammer und Meißel und … Alle lachten. Ein Stückchen durfte ich probieren, es war wie ein Bonbon, es schmeckte. Es sollten wohl Spekulatius oder Honigkuchen sein - ich weiß es nicht - ist auch egal.

22.4 Das Christkind kommt bald
Ich glaubte ans Christkind und hoffte, dass es auch zu mir kommt. Opa hatte einen Tannenbaum - größer als ich - in einen Ständer montiert. Der Ständer war ein großes, grünes Holzkreuz mit einem Loch in der Mitte, für den Baumstamm. Es dauerte, bis der Baum gerade stand. Opa schob verschieden große Splinte um den Stamm des Tannenbaums herum in das Loch, manche musste er mit dem Hammer etwas einschlagen. Der Baum stand gerade und war schön. In der Küche war es zu warm für ihn, also wurde er in unser Wohnschlafzimmer gebracht. Der Raum war eiskalt, da könnte der Baum sich besser halten, sagte man mir. Es war dort sehr kalt, daher ging ich da auch nicht hin.
Großes Gepolter. Die Wohnungstür flog auf. In der Küche stand der Müller. Er hieß Franz, so wie mein Opa. Die beiden Männer waren gute Freunde. Franz der Müller sagte mit lauter, fester Stimme zu meinem Opa: „Hier Franz, du sollst nicht leben wie ein Hund, das ist für euch“ und legte ein sehr großes Stück Fleisch auf unseren Küchentisch. Es war mucksmäuschenstill im Raum, keiner sagte mehr etwas. Die beiden Franz verließen gemeinsam die Wohnung. Die Überraschung und Freude waren groß bei Oma, Tante Mariechen und Mutter. Die drei Frauen zerteilten das große Fleischstück in kleine Portionen. Das größte Stückchen war für die Weihnachtsfesttage und alle anderen Teile wurden in Gläsern eingeweckt. Die Vorfreude sprang auch auf mich über.
Es ist Heilig Abend und ich muss früh ins Bett. Draußen ist sehr kalt. In der Wohnung - außer in der Küche - ist es auch nicht viel wärmer, daher soll ich in der Küche auf der Chaiselongue schlafen. Ich bin gar nicht müde. Also blieb ich wach. Ich wollte das Christkind sehen, es erwischen. Irgendwann war ich dann doch wohl eingeschlafen. - Was war das? Ist da etwas? Ich sehe aber nichts. Im Flur ist es hell. Die Tür öffnet sich ganz langsam und leise. Das Christkind ist da! - Aber, das ist doch Mutter?! Sie bemerkt, dass ich wach bin und lächelt mich an. „Was machst Du hier? Und wo ist das Christkind, Mutter?“ „Ich helfe dem Christkind, denn es hat seeehr viel zu tun.“ Hinten in der Ecke, auf der anderen Seite der Küche steht der Weihnachtsbaum. Er sieht irgendwie anders aus, aber ich kann ihn im Halbdunkel nicht richtig erkennen. Mutter legt etwas unter den Baum und verlässt wortlos und fast lautlos den Raum. Ich schlafe fest ein.
26.11.2021 p

 

23. Weihnachten

Es ist lauf im Flur: „Frohe Weihnachten!“ „Frohe Weihnachten!“ „Frohe Weihnachten!“ „Frohe Weihnachten!“ Ich höre die verschiedenen Stimmen und schon kommt Oma zu mir in die Küche: „Josi, komm schnell waschen und zieh das an.“ Alles geht sehr fix. „Josi, es ist Weihnachten, das Christkind ist geboren und wir alle feiern den Geburtstag des Herrn und die Leute wünschen sich gegenseitig frohe Weihnachten. Und ich wünsche dir, liebe Josi, auch frohe Weihnachten und das musst du gleich auch jedem wünschen, der in die Küche kommt, hörst du!“ Ich schüttele den Kopf, das war zu viel. Oma lächelt mich an, streichelt mich und redet mir gut zu. Tante Mariechen kommt in die Küche. Oma schiebt mich ihr entgegen „und?“ Verschämt und sehr leise wünsche ich Tante Mariechen „frohe Weihnachten!“ Sie streckt mir ihre Arme entgegen und entgegnet meinen Wunsch. Opa kommt. „Opa, Opa, frohe Weihnachten!“ Er ist baff, damit hatte er nicht gerechnet, Er setzt sich auf die Chaiselongue, nimmt mich auf seinen Schoß und spielt „Hoppe, hoppe Reiter …“ mit mir, was ich sehr gern mit ihm mache. Mutter kommt auch in die Küche. Ich laufe zu ihr, sie gibt mir die Hand mit dem bekannten Gruß. „Und was sagst du, Josi?“ „Frohe Weihnachten, Mutter!“ Sie hält meine Hand fest, schaut mich an und sagt: „Du musst einen schönen, tiefen Knicks machen.“ Ich tue wie geboten und sie ist wohl zufrieden.
Die Erwachsenen waren aus der Kirche gekommen, sie waren ganz früh morgens in der Christmette gewesen. Ich wäre noch zu klein dafür, meinten sie, aber nach dem Mittagessen dürfte ich mit in die Andacht kommen.
Jetzt wurde es turbulent in der Küche, das Frühstück wurde vorbereitet. Alle saßen um den großen Tisch und es gab Brot, Butter, Honig, Johannisbeergelee, Wurst und Käse, aber auch Plätzchen und feine Sachen, die ich nicht kannte. Feigen mit ganz vielen Kernchen, Nüsse und getrocknete Apfelringe. Vor jedem stand auch noch ein kleiner „Bunter Teller“.
Dann zündete Opa die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Der war kunterbunt geschmückt. Verschiedene Sterne hingen daran und kleine, rote Äpfel, die wunderbar dufteten. Plätzchen, Spekulatius und Engelhaar waren auch an dem Baum und an der Spitze ein Stern mit einem Schweif. Ich konnte mich daran nicht satt sehen. Alle sangen Weihnachtslieder. Opa las die Weihnachtsgeschichte aus einem dicken Buch vor und Oma bewachte die Kerzen genau.
Dann wurde ich zum Baum geführt und unter ihm lagen Sachen für mich vom Christkind: Ein Würfelkasten mit Märchenbildern und Mütze, Schal, Fausthandschuhe und lange dicke Wollstrümpfe, ein Kleid für den Sommer und eine blau-weiß karierte Schürze für jetzt, damit mein Kleid oder Rock und Bluse sauber blieben. Alles bewunderte ich sehr und begann auch gleich mit dem Märchenwürfelkasten zu spielen. Es waren glaube ich 16 Würfel und auf jeder Würfelseite ein Bildausschnitt. Als ich alle 16 Würfelseiten richtig gelegt hatte, war ein Märchenbild entstanden. Es waren sechs Märchen: Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Rotkäppchen, Frau Holle, Schneewittchen und Dornröschen. Am Anfang konnte ich das nicht so gut, aber bald hatte ich alle Märchen schnell gelegt. Die Mütze, die unter dem Baum lag, hatte drei lustige Troddeln, die wunderbar hin und her schaukelten, wenn ich sie aufhatte und den Kopf bewegte, und sie hatte ein Band unter dem Kinn. Die Handschuhe waren an einer langen Schnur befestigt, die durch die Ärmel des Mantels gesteckt wurde, damit ich keinen Handschuh verlieren konnte. So hing ein Handschuh aus dem rechten und einer aus dem linken Mantelärmel. Alle Wollsachen waren rot-grau gemustert.
Die Schürze durfte ich sofort umbinden. Sie gefiel mir. Gerne wäre ich gleich hinaus über die Straße gelaufen, um sie Elsbeth zu zeigen. Ich durfte nicht, es war zu kalt und an einem solchen Hohen Feiertag lief kein Kind einfach auf die Straße.
Auch alle anderen hatten etwas bekommen, ich kann mich aber nicht erinnern, was. Ich spielte in meiner kleinen Ecke zwischen Chaiselongue und Küchenschrank. Mutter summte leise vor sich hin. Sie bereitete unser Weihnachtsessen vor. Oma und Tante Mariechen halfen ihr. Bald saßen wir wieder am Tisch. Nach dem Tischgebet sprach Opa einen Segen. Es gab Fleisch, viel Fleisch. Auch ich bekam so viel wie ich davon essen konnte. Natürlich gab es dazu auch Salzkartoffeln, wie immer sonntags und Mutter hatte Schnippelbohnensalat gemacht, den mochten alle - so wie sie ihn zubereitete - sehr gern. Ich war rund um satt und musste schlafen. Nach dem Essen musste ich oft schlafen - wenn auch nur kurz - aber ich musste schlafen, auch an Weihnachten.
Alle waren schon bereit für die Andacht. Schnell bekam ich den Mantel angezogen, die Fausthandschuhe an der Schnur waren schon eingezogen und hingen aus den Ärmeln heraus. Mütze auf, Schal um und ab ging´s zur Kirche.
Tannenbäume waren voller Kerzen. Viele Kerzen brannten. Es ertönte sehr laute Orgelmusik und alle sangen Lieder, die ich schon ein bisschen kannte. Nach der Andacht gingen wir zur Krippe. Die war groß und schön. Was da alles war, ich schaute und staunte. Einen Pfennig durfte ich in die Spardose werfen …, davon aber später, in einem etwas anderen Zusammenhang.
Wir gingen wieder nach Hause. Es gab Kaffee und Kuchen für die Großen und ich bekam ausnahmsweise Kakao und mal keinen Kräutertee. Mutter hatte Mandelbienenstich gemacht und Oma am Tag zuvor ihren beliebten Marmorkuchen gebacken, wobei ich auch ein bisschen „helfen“ durfte.
Die Verwandten waren gekommen. Unsere Wohnung war wieder rappel voll und es war laut.
Opa öffnete das Parlephon und legte Musikschallplatten auf, eine nach der anderen und erfüllte Wünsche. Opa hatte sehr, sehr viele Schallplatten in großen von ihm selbstgefertigten Plattenbüchern sicher verpackt. Oma wünschte zum Schluss immer einen Marsch. Dann war Ende! Nach dem Abendessen wurde es leiser und ich schlief ein, auf der Chaiselongue!

Ich wachte auf und es war immer noch Weihnachten, aber anders. Die drei Frauen waren - unabhängig voneinander - in den verschiedenen Frühmessen gewesen. Ich wurde schnell gewaschen, angezogen und durfte mit am Frühstückstisch sitzen. Ich hatte die neue Schürze um und war stolz. Das Frühstück war einfacher, Opa war nicht da, er war im Hochamt. Als er kam, gab es schon bald Mittagessen, Aufgewärmtes von gestern. Kartoffeln und Sauce, mehr brauchte ich nicht. Die Fleischstückchen reichten kaum für Opa, Oma, Tante Mariechen und Mutter. Opa vergaß mich aber nie! Und dann - zum Nachtisch - wurde eine „riesige“ Schüssel mit Vanillepudding mit Himbeersauce aufgetragen, hhhmmm ….
Danach wieder Schlafen. Dann Weihnachtsandacht mit Gang zur ….
Kaffeetrinken mit Kuchenresten auch von gestern und Plätzchen von den „Bunten Tellern“.
Danach Schallplattenhören, das war für mich wunderbar. Opa legte die Schallplatten sehr behutsam auf den mit rotem Samt überzogenen Plattenteller, schubste ihn an und setzte dann ganz sacht den Tonarm mit der Nadel auf den Anfang der Plattenrille. Die ganze Zeit war ich an seiner Seite. Und die Musik war unbeschreiblich schön, ich liebte das. Nach dem Marsch war Schluss und Opa packte alles wieder sorgfältig ein. Danach wurde er aufgefordert, eine seiner Zigarren zu rauchen. Das war sehr interessant für mich. Ich durfte ihm bei der Auswahl „helfen“. Ein ganz neuer, unbekannter Duft zog durch die Wohnung.
Die Kerzen am Baum wurden angezündet. Es wurde gesungen. Opa las wieder aus dem dicken Buch vor. Dieses Mal von einem Mann, der Stephanus hieß und der wegen seines Glaubens von bösen Menschen gesteinigt worden war und da er für Gott gestorben sei, sei er ein Märtyrer. Und mir wurde in dem dicken Buch ein grausames Bild dazu gezeigt.
Abendessen und ab ins Bett, natürlich auf der Chaiselongue, im Winter wäre es im Wohnschlafzimmer zu kalt für mich gewesen. Das war der zweite Weihnachtstag.
Es war so ruhig und friedlich wie selten.
21.12.2021 p

 

24. Es ist nach Weihnachten

24.1 „Der dritte Weihnachtstag“
Weihnachten mit all der Festlichkeit ist vorüber. Es ist „der Dritte Weihnachtstag“ und immer noch feierlich bei uns. Die Kerzen am Weihnachtsbaum wurden noch einmal angezündet, es wurde aus der Bibel vorgelesen. Vom „Bunten Teller“ konnte ich auch noch etwas nehmen und Oma oder Opa gingen mit mir zur Krippe in der Kirche, weil ich unbedingt dorthin wollte. Ich hatte wieder einen Pfennig „gespart“ und warf ihn in die Dose, auf der die kleine Gestalt kniete, die es mir sehr angetan hatte: Ein schwarzes Kind mit schwarzen, krausen Haaren, wulstigen, knallroten Lippen, gefalteten schwarzen Händchen und in einem langen, weißen Gewand, vielleicht war es ein kleiner Junge, aber egal. Das Kind nickte, wenn der Pfennig in die Spardose fiel. Ich war innerlich aufgewühlt, sagte aber kein Wort.

Verwandte und Freunde von Opa kamen nach dem Mittagessen vorbei und manche von ihnen blieben zum Kaffee, auch Kinder und das fand ich wunderschön. Opa bediente wieder das Grammophon und ich war hellauf begeistert. Nichts mochte ich lieber, auch den anderen gefiel es ganz offensichtlich. Weihnachtslieder erklangen, Walzer, Klassik von Beethoven, Händel, Schubert usw. Manche hatten beim Hören der Musik Tränen in den Augen. Jeder konnte sich eine Platte wünschen, auch ich. Alle lachten, wenn ich meinen Wunsch äußerte und zielsicher die Platte aus den Alben heraussuchte. Ich konnte noch nicht lesen, ich war ja noch zu klein, aber ich fand sie, egal wo sie steckte. Es war „Waldeslust, Waldeslust, o wie einsam schlägt die Brust, ihr lieben Vögelein, singt eure Liederlein und singt aus voller Brust die Waldeslust. / Waldeslust, Waldeslust, o wie einsam schlägt die Brust, meinen Vater kenne ich nicht, meine Mutter liebt mich nicht, und sterben mag ich nicht, bin noch so jung. …“.
Wünschte sich Oma ihren Marsch, war das Ende angesagt, alles wurde verstaut und die meisten verließen uns wieder. Schnell wurde das Abendbrot aufgetragen, selten blieb noch jemand zum Essen da. Vom Weihnachtsschmaus war auch kaum noch etwas übrig geblieben.

24.2 Nach Weihnachten
Die Tage nach Weihnachten gestalteten sich ähnlich. Mutter war wieder weg, keiner sagte etwas dazu. Opa ging seiner Arbeit nach, sorgte für genügend Brennmaterial für den Küchenherd und arbeitete für seine Bienenvölker. Oma und Tante Mariechen kochten, putzten und flickten, nähten und stopften. Oma strickte auch schöne Sachen, wenn sie Wolle hatte. Manchmal kamen Leute und holten Handschuhe, Mützen und Schals bei uns ab.

Solange aber die Krippe in der Kirche stand, ging jemand mit mir dorthin. Das alte Ritual: Der Pfennig fiel in die Spardose, das schwarze Kind nickte, die Augen des schwarzen Kindes waren auf mich gerichtet. Ich sah das und konnte mich kaum abwenden, es fiel mir schwer, wieder zu gehen. All die Figuren, die zu sehen waren, interessierten mich kaum. Auch als irgendwann die Drei Könige da waren, war mir das nicht wichtig, wichtig war mir einzig und allein die nickende schwarze Kinderfigur. In meinem Kopf arbeitete es. Ich komme, wenn ich sterbe in den Himmel, hat die Oma gesagt. Ich bin getauft, ich bin sogar zwei Mal getauft. Einmal von der Oma, weil ich so schwach war und alle glaubten, dass ich gleich sterben würde und dann noch in der Kirche vom Probst und in den Himmel, weil ich immer so brav bin. Dieses schwarze Kind aber kommt, wenn es stirbt, in die Hölle, nur weil es nicht getauft ist. Das ist doch falsch, das ist doch ungerecht. Der liebe Gott ist doch lieb, der macht so etwas doch nicht. Er schickt das Kind doch nicht in die Hölle und auch das Jesuskind ist lieb und hat alle Kinder lieb und alle Menschen. Ich verstehe das alles nicht, das kann nicht richtig sein.
Ich schwieg, wurde aber immer unruhiger.

Zu Hause angekommen, ging alles seinen Gang.
Kam Besuch, freute ich mich darüber sehr. Fast immer bekam ich Kleinigkeiten, mal einen dicken, rotbackigen Apfel oder eine Apfelsine oder jemand brachte sogar etwas zum Anziehen für mich mit. Zwar waren das meistens getragene Kleidungsstücke, jedoch gut erhaltene, fast alle mochte ich. Manche mussten leicht geändert werden, damit sie besser passten. Sehr selten wollte ich das Stück dann doch nicht anziehen und es gab Stunk.

Hinaus auf die Straße zum Spielen darf ich zwar jetzt kaum, denn es ist kalt und es liegt Schnee und die Schuhe sind ungeeignet, sie müssen geschont werden. Ich bin sehr gerne draußen, aber was nicht geht, geht nicht; spielen kann ich auch drinnen. Ich darf die Schere nehmen und aus dem Katalog Figuren und dazu passend Kleider ausschneiden. Das kann ich sehr gut. Manchmal malt mir auch irgendjemand einen schönen Stern oder einen Mond zum Ausschneiden. Wenn ich die Figur gut ausgeschnitten habe, klebt sie jemand mit etwas Mehlpapp auf die Scheiben des Küchenfensters. Wenn die Sonne scheint, manchmal scheint sie ein paar Stündchen, leuchten die Figuren leicht. Mir gefällt das und allen anderen offenbar auch. Das Fenster ist voller Sonnen, Monde und Sterne und ich kann immer genauer schneiden.
Vom Weihnachtsbaum bekomme ich manchmal einen kleinen Apfel oder einen Spekulatius oder ein Plätzchen zum Essen. Die anderen naschen auch davon. Alle „Bunten Teller“ sind fast leer.
Es ist kalt, aber das Feuer knistert im Herd, wenn Opa einen Zapfen ins Feuer wirft, knackt und knallt das, ich mag das und freue mich. Opa und Oma haben ihren Spaß daran, wenn ich juchze. Auch Tante Mariechen lächelt manchmal. Sie ist oft traurig. Weil der Name „Tante Mariechen“ so lang ist, sagen alle manchmal nur „Tantchen“ zu ihr und ich darf das auch so sagen.
Die Heiligen Dreikönige waren auch schon da.
Unser Weihnachtsbaum ist nicht mehr so schön. Er nadelt, in den Kerzenhaltern stecken nur noch die kleinen Wachsstummel der abgebrannten Kerzen und die Äpfel und süßen Sachen sind gegessen. Ein paar Sterne und vergoldete Zapfen hängen noch an dem Baum. Oma und Opa verpacken den spärlichen Schmuck. Die wenigen Wachsreste werden auch eingesammelt, um neue Kerzen daraus herstellen zu können. Der Baum wird zu Brennholz zerlegt, so wird er noch Wärme spenden.
Die Weihnachtszeit ist vorüber.

24.3 Ich und die Katzen
Manchmal, wenn ich schon nicht raus darf, darf ich wenigstens auf die Synagoge. Sobald ich da bin, sind die Katzen auch da, wie gerufen. Lange kann ich mich mit ihnen beschäftigen. Sie sind so weich, so warm, schnurren behaglich und kuscheln sich an mich, ich habe sie so lieb. Sie haben scharfe Krallen an ihren Pfoten, aber nie hat mich eine von ihnen gekratzt. Ich konnte beobachten wie sie ihre Krallen einzogen, wenn ich sie auch nur sanft berührte. Gern probierte ich es aus und streichelte ihre Füßchen und die Ballen unter ihren Füßen. Es machte mir Spaß und den Katzen auch. Sie blieben bei mir oder in meiner Nähe. Zu den Mahlzeiten oder wenn jemand zu Besuch kam, wurde ich in die Wohnung gerufen, sonst durfte ich da oben spielen, bis es dunkel wurde und ich war fast immer allein auf der Empore der Synagoge. Selten kam jemand aus der Familie der Hausbesitzer, um einen Gegenstand oder ein Werkzeug zu holen.
Einmal war es aber schlimm für mich. Ein Sohn der Familie kam, griff eine Katze und schleuderte das arme Tier in eine lange Waldsäge und ging polternd wieder weg. Die Katze schrie und ich auch. Schnell rannte ich in die Wohnung, holte etwas von den Baumwollsteifen, die Oma immer als Verband für meine Wunden nahm und verband die blutende Pfote der Katze. Das habe ich nie vergessen können.
Tiere wurden sowieso nicht gemocht. Sie waren nur da, um geschlachtet zu werden, der Besitzer war Hausschlächter.

24.4 Das geschlachtete Schwein
Einmal, es war noch im Winter, riefen mich Nachbarskinder zu sich auf den Hof, weil ein Schwein geschlachtet werden sollte. Es hieß, wenn man das Ringelschwänzchen des Schweins hält, bekommt man ein Ringelwürstchen. Na gut, die Neugierde siegte, ich ging hin. In einem riesigen Holzzuber lag das tote Schwein in blutrotem, dampfendem Wasser. Irgendwie bewegte es sich aber plötzlich. Ich lief schreiend davon, nach Hause. Es dauerte, bis ich mich wieder gefasst hatte. Erst allmählich konnte ich erzählen, was passiert war. Oma beruhigte und tröstete mich - Opa verstand mich gar nicht.
Für die Nachbarskinder war es offenbar ein Fest, ein Schlachtfest. Bald zogen auch Kinder von Haus zu Haus, klopften an Türen und sangen: „Lütge, lütge Fastnacht, ich hab´ gehört ihr habt geschlacht', habt so fette Würst´ gemacht. Gib mir eene, gib mir eene, aber nicht sone ganze kleene. laßt das Messer sinken, bis unten in den Schinken. Laßt mich nicht zu lange steh'n, ich muß nen Hüschen weitergeh'n.

24.5 Die kopflose Gans
Das war - glaube ich - zu einer ganz anderen Jahreszeit, vielleicht vor Sankt Martin. Ahnungslos ging ich an dem Hinterhof des Kolonialwarenladens der am Marktplatz stand, vorbei. Viele Menschen waren auf diesem Hof. Neugierig wie ich nun mal war, wollte ich sehen, was da los ist. Ein kräftiger Mann stand da und hatte eine Gans im Arm, die flatterte fürchterlich und versuchte offenbar sich zu befreien, was ihr aber nicht gelang. Der Mann hielt sie sehr fest. Vor ihm stand ein Hauklotz. So schnell konnte ich gar nicht gucken, da hatte dieser Mann der Gans den Kopf abgetrennt. Die Gans flatterte ohne Kopf viele Meter über den relativ großen Hinterhof. Mich schauderte und ich rannte, so schnell ich konnte zu uns nach Hause, in die Marktstraße.
30.12.2021 p

 

25. Im Winter und Frühjahr

25.1 Im Hochwinter
Die eingelagerten Kartoffeln, Rüben, Rotebeten und auch Möhren gehen zur Neige. Fleisch ist bei uns völlig rar. Ganz kleine Fleischstückchen gibt es sonntags und Oma versteht es, das bisschen Fleisch so einzuteilen, dass es manchmal sogar noch bis zum Dienstag reicht. Dafür aber gibt es vermehrt „Klunkersuppe“ zu essen, manchmal sogar abends und an den Fastentagen - wie mittwochs und freitags - „Zitterbrei“ mit ein wenig Butter und Zucker. Beide Gerichte mag ich sehr und wenn Oma Klöße aus rohen Kartoffeln macht, bin nicht nur ich hell auf begeistert. Milchreis mit einigen eingemachten Waldhimbeeren ist nicht so mein Fall. Das eingemachte Gemüse und die Waldpilze in Steintöpfen und Gläsern sind auch bald aufgegessen. Ab und an bekommen wir verschiedene Kohlarten. Brot ist noch zu kriegen, manchmal müssen aber schimmlige Stellen herausgeschnitten werden. Von angeschimmelten oder trockenen Brotstücken wird Brotsuppe gekocht, wenn Rosinen vorhanden sind, werden für jeden etwa drei bis vier hinein gestreut. So schmeckt es recht gut und alle werden irgendwie satt.
Im Herbst half Opa einigen Bauern auf dem Wochenmarkt Kartoffeln, Kohl und Äpfel zu verkaufen, wenn sie etwas anbieten konnten. Angeschlagene, angefaulte und wurmstichige Äpfel bekam er dann geschenkt. Die besten Stellen wurden ausgeschnitten und eingeweckt. So hatten wir noch bis zum Ende des Winters einige volle Gläser als Vorrat. Eine sparsame Beilage oder ein kleiner Nachtisch war so gelegentlich noch möglich.
An einigen Tagen in der Woche gibt es Fisch, vor allem Hering. Die Heringsrogen sind ein Hochgenuss und daher sehr begehrt. Mir wird aber immer etwas zugesteckt, ich werde satt. Manchmal haben wir sogar ein Stückchen „Stinkekäse“. Und ich bekomme Honig oder „Grafschafter Rübenkraut“ ganz dünn aufs Brot geschmiert und darunter ein bisschen Margarine.

25.2 Frühes Frühjahr
Sobald die Tage wärmer werden und draußen allmählich alles grün wird, sammeln wir kleines, junges Gemüse wie Brennnesseln, Löwenzahn und Geselchen, so wird die Klunkersuppe ein wenig grüner und schmeckt ganz anders. Ich esse alles gern - sogar Spinat - den viele gar nicht mögen.

Eier gibt es zu dieser Zeit nicht, erst wieder zu Ostern. „Eier bringt der Osterhase“, heißt es. Rainer war mit seiner Mutter für ein paar Tage bei uns zu Besuch, sie waren von weit her mit dem Zug gekommen. Rainer war etwas jünger als ich, aber beide waren wir vermutlich zwischen fünf und sechs Jahre alt. Wir standen da so am Küchenfenster und schauten hinaus auf den Misthaufen, auf dem ein paar Hühner scharrten und pickten. Ne, überlegten wir, das mit dem Hasen konnte nicht sein. Hühner legten Eier, das wussten wir genau und waren uns auch einig, was aber der Osterhase da jetzt sollte, konnten wir nicht klären; die Großen fragten wir nicht.
Rainer war mit seiner Mutter wieder weggefahren. Ich war allein mit Oma, Opa und Tante Mariechen. Plötzlich hatten wir Eier, viele Eier und sie wurden gekocht und gefärbt, gelb / orange, grün, rot und bläulich / lila, mit Kamillenblüten oder Zwiebelschalen, Gras oder Brennnesseln, rote Bete, Holunder- und Blaubeeren oder Rotkohlblätter. Sie waren schön, ihre Schalen wurden leicht eingefettet, damit sie glänzten und die bunten Eier wurden kalt gelagert. Der „Osterhase“ würde sie dann den Kindern - so wie mir - bringen. Ich schwieg.
04.01.2022 p

25.3 Eiersuche
Tante Martha, meine Patentante, die in Dortmund lebte, war zu uns zu Besuch gekommen. Sie wohnte bei ihren Verwandten in der Parallelstraße, war aber tagsüber fast nur bei uns. Oma und sie waren Freundinnen und verstanden sich prima. Wir gingen alle zum kleinen Wäldchen in unserer Nähe und dort sollte der „Osterhase“ Eier versteckt haben, die ich suchen sollte. Plötzlich waren auch andere Kinder da, die ich nicht kannte und wir sollten alle suchen. Alle durchkämmten wir das Wäldchen. Als ich fünf bunte Eier gefunden hatte, war ich überglücklich und zufrieden betrachtete ich sie. Hm, einige kamen mir bekannt vor. Als ich zur Oma lief und es ihr sagte, schaute sie mich lächelnd an und hielt mir den Mund zu, „pst!“ Ich sollte still sein und nicht weiter fragen, denn es waren jüngere Kinder als ich dabei und die glaubten noch, dass der „Osterhase“ die Eier angemalt und versteckt habe, die wir nun gefunden hatten. Ich war keine Spielverderberin. Zu Hause angekommen, verteilte ich die Eier an alle. Für mich behielt ich ein rotes Ei.
Nach dem Abendbrot las Opa aus dem großen Buch - Bibel oder auch „Heilige Schrift“ genannt - die „Auferstehungsgeschichte“ vor, denn es war Ostern.

25.4 Der Mantel
Ein großes Paket wurde per Post gebracht und da drinnen war - neben Sachen für Oma - ein Mantel für mich. Er war neu, aus dickem, warmem Stoff, graues Fischgrätenmuster. Aber er hatte eine besondere, schöngeformte Kapuze, die war innen mit rotem Schottenmusterstoff gefüttert. Der Mantel war schön und er passte mir gut. Rainers Mutter hatte den Mantel für mich genäht und Rainer hat willig Modell gestanden, das stand in dem beigefügten Brief. Rainer und ich waren damals etwa gleich groß.
Jetzt hatte ich endlich einen warmen Mantel für den Sonntag und wenn wir wohin gehen mussten. Auch im Frühling konnte es noch kalt sein und sogar schneien. Der Mantel wurde bei einem Schneeregenschauer sehr nass. Zum Trocknen wurde er über dem Küchenherd aufgehängt.
Und dann passierte es. Es roch verbrannt. Ehe einer schaute, was geschehen war, war vorne links unten ein Loch, mit einem großen hellbraunen Rand, eingebrannt. Der Mantel war verdorben. Tagelang versuchten die Frauen, die beschädigte Stelle auszubessern, mit sehr mäßigem Erfolg. Ich sah immer die Stelle und mochte den Mantel nicht mehr anziehen. Aber wenn es kalt war, musste ich ihn tragen, so hässlich er auch geworden war, denn ich hatte keinen anderen Mantel und keiner konnte mir einen neuen besorgen. Wenn es kalt war, hätte ich ohne Mantel nicht nach draußen gehen können und immer zu Hause bleiben müssen.
Das war bitter, keiner konnte das ändern.
07.01.2022 p

 

 

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