Geschichten6

32. Himbeersuche

32.1 Wir bekamen Besuch, hohen Besuch
Wir hatten Sommerferien. Es schellte bei uns, es war schon recht spät am Abend. Wer könnte das sein? Meines Großvaters Bettsachen lagen bereits auf der Chaiselongue in unserer Wohnküche, wo er für gewöhnlich schlief. Der Vater meiner neuen Freundin Hildegard war gekommen, um uns näher kennen zu lernen, denn Hildegard und ich hatten vereinbart, auf einer Himbeerheide, ungefähr 5 km entfernt, Himbeeren zu pflücken. Beide waren wir 12 Jahre alt. Sie war jedoch acht Monate älter als ich, auch auf unserer Schule, aber eine Klasse über mir.
Ich versank fast im Boden vor Scham über mein zu Hause, denn bei Hildegard war es viel, viel schöner als bei uns, nicht so ärmlich und erbärmlich. Die beiden Männer unterhielten sich angeregt. Hildegards Vater, Studienrat von Beruf, hatte einen Eisenbahner in seiner Familie und Opa war pensionierter Eisenbahner. Die Beiden hatten sich einiges zu erzählen. Anscheinend stimmte die Chemie. Kurzum, Hildegard und ich durften zusammen „in die Himbeeren gehen“. Wir wollten früh morgens losgehen.

32.2 So viele Himbeeren - aber da stimmt doch was nicht
Es war nach dem Frühstück, als wir uns trafen. Hildegards jüngerer Bruder sollte uns begleiten. Er sollte uns helfen, die schweren Eimer nach Hause zu tragen, aber auch „beschützen“, denn manchmal „trieb sich Gesindel herum“.
Wir marschierten mit unserer Ausrüstung über eine Stunde und erreichten das Gebiet mit den tollen Himbeeren, jenseits des kleinen Flüsschens. Es wurde eine kurze Essenspause eingelegt und dann ging das Pflücken los. Jeder hatte einen kleinen Behälter für die Himbeeren und leerte ihn über einen Eimer aus. Komisch wir drei pflückten und pflückten, aber der Eimer füllte sich nicht richtig. „Warte“, flüsterte Hildegard - die ihren Bruder gut kannte - mir zu, „den erwischen wir“. Wir pflückten stumm weiter, als der Bursche in Richtung Eimer verschwand, folgte sie ihm unauffällig, es klatschte und es gab ein Gekeife und Gezeter. Ich konnte froh sein, dass ich keinen solchen Bruder hatte. Das Pflücken ging weiter, jetzt aber geordnet, denn Hildegard hatte ein Machtwort gesprochen. Beide Eimer füllten sich schnell.

Bevor wir uns auf den Heimweg machten, tranken wir noch eine ordentliche Menge Wasser aus dem kleinen Fluss. - Viel später war mir klar, dass das ein durch Industrie, Land- und Forstwirtschaft schwer belastetes Gewässer war. Wir blieben gesund, denn es war ja nur dieses eine Mal und unsere Abwehrkräfte schafften es offensichtlich gut.

32.3 Geld für Himbeeren
Noch mehrere Sommer danach ging ich in die Himbeeren, aber meistens alleine. Manchmal traf ich auf andere Pflückerinnen. Das Gebiet war so weitläufig, dass wir uns kaum ins Gehege kamen. Eine kurze Verständigung über das Teilgebiet genügte, sodass wir uns nicht behinderten. Ich war froh, nicht ganz alleine zu sein, auch wenn ich die zufällig angetroffenen Personen nicht kannte. Wir hatten alle dasselbe Ziel, so viele gute, reife, süße Himbeeren wie möglich zu pflücken. Den vollen 10 Liter Eimer schleppte ich dann nachhause, oft vier bis sechs Kilometer weit. Gottseidank war der Eimer zu der Zeit schon aus Plastik und daher leicht. War Mutter bei uns zu Hause, half sie mir, die frischen Himbeeren an Hotels, Gasthäusern und Wohlhabenden zu verkaufen. Für einen vollen Eimer erhielt ich 5 D-Mark, manchmal auch mehr. Die meisten Jahre machte ich das alleine. Und das an mehreren Tagen hintereinander, solange die Erntezeit war. Es war wie Saisonarbeit. Waren die Beeren zum Schluss nicht mehr so gut, behielten wir sie und verarbeiteten sie für uns selbst zu Marmelade oder Saft.

32.4 Himbeeren für nix
Ein Mal wurde es brenzlig für mich. Ich war wieder alleine und trug den Plastikeimer randvoll mit reifen, aromatischen Waldhimbeeren gefüllt den Hang hinunter zum Forstweg. Ein PKW mit „BO“ Kennzeichen stand auf dem Weg und drinnen saßen ein Mann und eine Frau, vermutlich ein Ehepaar. Sie waren nicht mehr ganz jung. Als ich mich dem Wagen näherte, stiegen sie aus dem Auto aus, kamen mir entgegen und wollten mir die Himbeeren für wenig Geld abnehmen. Da ich nicht einwilligte, beschimpften sie mich auf das Niederträchtigste und versperrten mir den Weg. Ich drehte mich blitzschnell um und lief mit meinem vollen Eimer zurück in den nahen Wald und gönnte mir dort im Verborgenen eine kleine Verschnaufpause und erholte mich von meinem Schreck. Über verschlungene Waldwege, die ich alle gut kannte und daher für mich kaum ein Umweg waren, kam ich mit meiner fruchtig süßen Last wohlbehalten wieder zu Hause an. Besonders Mutter schien besorgt und riet mir eindringlich, vorsichtig zu sein. Sie wusste, dass ich flink war und mich dort im Gelände gut auskannte. - Ähnliches hatten wir vorher schon gehört: Leute mit Autos kamen von weiter her und bedrohten Pflückerinnen, um billig an die Beeren zu gelangen. Beim Pilze- und Blaubeerensammeln konnte das auch passieren.
05.07.2022 p

 

33. Personenbeschreibungen

33.1 Tante Mariechen
In den letzten Kriegsmonaten, als die große Fluchtwelle aus Ostpreußen stattfand, kam auch Tante Mariechen - eine sehr gute Freundin meiner Großmutter - zu uns. Wer von den Beiden die Ältere war, ist mir nicht bekannt.
Tante Mariechen auch „Tantchen“ genannt, hieß mit richtigem Namen Maria S.. Sie war von Beruf Pfarrhaushälterin in Heydekrug gewesen und ledig. Da sie niemanden mehr hatte, blieb sie bei uns. Im mittleren Raum unserer Notwohnung, hinter einem Regal, das mit Eingemachtem gefüllt war, wurde ihr eine Schlafecke eingerichtet, bestehend aus einem Metallbett und einem Kleiderregal, alles durch Vorhänge vom übrigen Raum abgetrennt.
Oma und Tante Mariechen arbeiteten vornehmlich im Haus und Garten, denn mein Opa war sehr viel unterwegs. (S. auch 17.2 - 4)
So lebten und arbeiteten die Drei über Jahre intensiv und harmonisch zusammen, bis es hieß, dass wir wegen Umbau des Hauses aus der Wohnung ausziehen müssten.
Mein Großvater machte sich auf Wohnungssuche. Das war nicht einfach, denn es herrschte noch immer Wohnungsnot.

Die Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt kamen für uns nicht in Frage, denn die Mieten waren für uns unbezahlbar. Das Wohnungsamt berechnete nach der Anzahl der im Haushalt gemeldeten Personen die Größe der zu vergebenden Sozialwohnung.
Tante Mariechen war sehr fromm und ging täglich in die Frühmesse. Sie wollte daher nur in eine Wohnung unweit der Kirche ziehen. Es war aber im Stadtzentrum keine Wohnung der gewünschten Größe und zu einem erschwinglichen Mietpreis zu finden. Als es hieß, wir müssten aus der Stadtmitte hinaus an den Stadtrand ziehen, meldete Tante Mariechen sich in einem Altersheim auf der Wewelsburg an.

Da - wie oben erklärt - die Größe der Wohnung von der Personenzahl abhing, bat mein Großvater sie inständig, doch so lange zu bleiben, bis wir die neue Wohnung bezogen hätten, denn es wurden zu der Zeit neue Mietshäuser gebaut und wir hatten schon eine größere Wohnung in Aussicht.
Tante Mariechen aber beharrte auf ihrem Standpunkt und ließ sich durch die Argumente und das Bitten meiner Großeltern nicht erweichen. Sie zog also in das Altersheim auf die Wewelsburg.

Inzwischen hatten auch wir außerhalb der Stadt in einem zwar neuen, aber schlecht gebauten Haus, eine sehr kleine Mansardenwohnung bezogen, in einer Siedlung der „Roten Erde“.
Dies ereignete sich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, als ich etwa neun Jahre alt war.

Meine Großmutter korrespondierte mit Tante Mariechen regelmäßig. Nach und nach wurde deutlich, dass es ihr in dem Altersheim absolut nicht zusagte, denn sie musste ihr Zimmer mit einer Mitbewohnerin teilen, die nach Tante Mariechens Schilderungen sehr „unordentlich, unsauber und durcheinander“ war.
Bei bestem Willen wäre es uns nicht mehr möglich gewesen, Tante Mariechen wieder dauerhaft bei uns aufzunehmen. Durch die vielen schrägen Wände der kleinen Mansardenzimmerchen war kaum Stellfläche für unsere Möbel vorhanden. Eine größere Wohnung war immer noch nicht zu kriegen, denn die Vergabebedingungen hatten sich nicht geändert und wir waren nun mal ohne Tante Mariechen eine Person weniger.

Vermutlich hatte Tante Mariechen ihre starrköpfige Entscheidung sehr bereut und bedauert. Etwa drei Jahre nach ihrem Umzug auf die Wewelsburg starb sie - vor Harm - wie alle übereinstimmend meinten.

33.2 „Agricola arat“
Walter - ein entfernter Verwandter von mir - erzählte mir etwa 12 Jahre später auf einer ausgedehnten Wanderung von seiner Flucht: Seine Mutter war 1945 alleine mit ihm vor den heranrückenden Russen geflohen. Er war damals fast 17 Jahre alt. Sein Mutter verkleidete ihn gekonnt als Mädchen, denn sie hatte nicht so große Angst vor den Russen wie vor den Deutschen, denn die verlangten, dass die ostpreußische Bevölkerung bleiben sollte, um das Land „bis zum bitteren Ende“ zu verteidigen. Seine Mutter befürchtete, dass Deutsche ihn ihr deshalb entreißen könnten, um ihn als Soldat zu verpflichten.
Auf ihrem Fluchtweg begegneten sie auch einigen Russen, die sie kontrollierten, die Maskerade erkannten und sie augenzwinkernd passieren ließen, da seine Mutter und er außer der Kleidung, die sie am Leib trugen, nichts besaßen.

Als Walter und ich auf unserem Weg von Weitem einen pflügenden Bauern mit einem Pferdegespann auf einem Feld sahen, bemerkte Walter: „Agricola arat! - Sieh, alles hat sein Gutes, wäre ich noch in Ostpreußen, arbeitete ich dort heute sicher auch als Bauer, so wie der da. Nun aber diene ich als Mathematiker der BRD.“

Walter hatte - nach seiner Flucht - in den Westen Deutschlands auch noch perfekt Russisch gelernt, weil er die Russen und ihre Kultur schätzte und für ihn als Mathematiker war es recht nützlich, das russische Alphabet zu kennen, so sein Kommentar.
20.04.2022 p

33.3 Tante Martha
Meine Patentante hieß Tante Martha. Sie war - wie Tante Mariechen - auch eine Freundin meiner Großmutter. Sie wohnte in der Parallelstraße in einem Geschäftshaus, wenn sie da war. Ihre andere Wohnung war in Dortmund. Tante Martha mochte ich nicht so sehr, obschon sie mir manchmal etwas mitbrachte. Ihre Schwester, Tante Anna, hatte ich gern. Sie war ruhig, freundlich, lächelte oft und sah hübsch aus und trug eine interessante Brille.

Wenn Tante Martha zu uns kam, konnte es ungemütlich für mich werden. Oft erzählte sie fürchterliche Geschichten und breitete eine große Mappe mit riesigen Blättern auf unserem Küchentisch aus. Es waren schreckliche Bilder - von Teufeln, Höllenqualen und fürchterlichem Durcheinander von Leibern - die ich nicht anschauen wollte, musste ich aber, weil es um die „sieben Totsünden“ ging. Diese Bilder waren von Hieronymus Bosch und der war berühmt und vielleicht sogar heilig.
Bilder, die ich schön fand, hingen an den Wänden in unserer Wohnung. Betende Bauern auf dem Felde, Madonna in der Rosenlaube, ein Schutzengel, der zwei Kinder über eine Brücke leitet, Sternennacht und der Sämann. Am schönsten war das Bild Reigen der Tugenden, mit einem dunklen, breiten, geschwungen Holzrahmen über dem Sofa im Wohnzimmer und das Zweitbeste war ein Bild-Wandteppich - als Wandschoner hinter der Chaiselongue – mit einer Darstellung vom Rhein.
Dort wollte ich hin, wenn ich groß bin.

Es gab auch schöne Momente, wenn Tante Martha zu uns kam, und wenn sie ihre Zither mitbrachte. Dieses Zupfinstrument sah schon wertvoll aus, mit den schillernden Perlmuttintarsien. Sie konnte wunderschön spielen und begleitete unseren Gesang auf ihrem Instrument. Wir alle sangen Kirchen- und Volkslieder und was uns sonst noch einfiel. Diese Hausmusik konnte sich, vor allem in den Wintermonaten, über ein paar Stunden erstrecken. Das war sehr anheimelnd.

Wenn Fastnacht war, dann war Tante Martha lustig. Viele Kinder waren dann in ihrer Wohnung. Die meisten waren älter als ich und wir spielten alle zusammen: „Die Reise nach Jerusalem“, „Hänschen piep mal“, „Häschen in der Grube“, „Stille Post“ und das alles stundenlang. Es gab auch Schönes zum Naschen: Getrocknete Pflaumen, Apfelringe, Sultaninen, Feigen, Datteln und verschiedene Nüsse. Ich durfte bleiben, bis es dunkel war und ich dann durch das Gässchen nach Hause gebracht wurde.
Tante Martha hatte ein wunderbares Kleid an. Es war ganz hell und hatte über 120 Knöpfe, alle waren gleich, nur in verschiedenen, leuchtenden Farben: rot, blau, grün, gelb, violett.
Zu Ostern organisierte sie oft auch das Eiersuchen für mich (s. 25.3), zusammen mit Oma und Opa.

Das alles trug sich in den Vierziger-Jahren bis etwa 1952 zu.

Mit ihrem Ehemann zusammen besaß Tante Martha in Dortmund ein Sarglager. Nachdem ihr Mann verstorben war, hatte sie so viel Geld angespart, das sie meinte, ein Haus bauen zu können, natürlich zusammen mit meinen Großeltern, die zu dem Zeitpunkt bereits weit über 70 Jahre alt waren. Wer Bienenhäuser bauen kann, wird wohl auch ein Haus bauen können, das war vermutlich ihr Gedanke. Sie überredete Oma und Opa dazu und beide machten mit. Auch ich musste helfen. Am Anfang unserer Straße hatte sie ein Baugrundstück erworben und wir schachteten alle vier zusammen im Sommer wochenlang aus. Daneben auf dem Gelände wurde ein Garten angelegt und nebenher auch noch Gemüse und Kartoffeln angebaut Es war ausgeschachtet und nun sollte mit dem Hausbau begonnen werden. Plötzlich, o weh, die gute Tante Martha hatte kein Geld mehr und wir natürlich auch nicht. Sie verkaufte das Grundstück, zog wieder nach Dortmund und wir sahen sie nie mehr wieder. Briefe wurden zwar beantwortet, Ihre Unkosten waren angeblich nicht gedeckt. Die Bank wollte auch noch etwas von ihr. Geld für unsere Arbeit gab es nicht. Wir hatten ja ein Jahr lang einen Garten auf dem Grundstück umsonst. Sie starb auch bald. Auf ihrer Beerdigung war keiner von uns. Vermisst hatte ich sie nicht. Da muss ich 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein.

Später wurde mir erzählt, dass ihr Mann sehr oft betrunken gewesen sei und sie ihn einmal mit einer Bierflasche fast erschlagen habe. Von den Verletzungen hatte er sich nicht mehr erholen können und so war sie recht früh Witwe geworden.
31.07.2022 mit einer Ergänzung vom 05.09.2022 p

 

 

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