Geschichten8

35. Als Deutsche in den 1960er Jahren im Ausland

Josi erzählt das Folgende ihrer damaligen Erfahrungen bzw. Sichtweisen aus heutiger Erinnerung.

35.1 Die Klassenfahrt nach Holland
Im Sommer 1962 fuhr ich mit meiner Schulklasse - wir waren eine reine Mädchenklasse - für vier Tage ins benachbarte Ausland, nämlich nach Holland. Aufregend! Noch nie war ich in Urlaub oder in die Ferien gefahren, geschweige denn auch noch ins Ausland. Da an der Grenze genau kontrolliert wurde, mussten die Ausweispapiere stimmen. Es ging los, mit viel Spannung! Hella und ich saßen im Bus zusammen. Wir machten alles zusammen. Die Grenzkontrolle war unauffällig, normal. Es war schön In Holland; es war bunt, es war interessant und lehrreich, so wie eine Klassenfahrt nun einmal zu sein hat. Wir waren in Botanischen Gärten, in Museen, in Montessoribildungseinrichtungen, wie Kindergarten und Schule etc.. Die Menschen, denen wir begegneten, zeigten sich uns gegenüber ungewohnt reserviert.
Am letzten Tag hatten wir Freizeit. Da es mir vor Hunger fast schlecht war, ging Hella mit mir in ein Gasthaus. Ich hatte aber kein Geld mehr, denn ich besaß sehr wenig. Hella suchte ein schönes Gericht aus, bestellte es für sich und beschloss, es mit mir zu teilen. So machten wir es. Das Essen war lecker und der Teller fast leer. Als die Kellnerin gewahrte, dass wir gemeinsam das eine Gericht aßen, kam sie wütend an unseren Tisch, beschimpfte uns als Deutsche fürchterlich, auf das Gemeinste. Vieles verstanden wir gar nicht. Sie verlangte mehr Geld von uns und schmiss uns raus.
Für mich war die Sache gelaufen; ich hatte buchstäblich „die Nase voll“ von Holland. Das was Mutter 1954 passiert war, hatte ich noch im Hinterkopf. Sie war als Nazi ausgewiesen worden, weil sie sich wohl intensiv nach jüdischen Menschen - die sie von früher kannte - in mehreren holländischen Städten erkundigt hatte.
Ich war nie wieder in Holland, bin nur noch durchgefahren, z. B. nach Amsterdam, zum Flughafen Schiphol ….

Als positiv sehe ich heute, dass in den Niederlanden seit einiger Zeit das Schicksal der jüdischen Staatsbürger während des Zweiten Weltkriegs erforscht und das Verhalten der nichtjüdischen, niederländischen Bevölkerung schonungslos aufgearbeitet und benannt wird, dass viele Niederländer damals fast alle Juden in ihrem Land an die deutschen Besatzer ausgeliefert hatten. So sind auch sehr viele niederländische Juden in Konzentrationslagern umgebracht worden.
Am 10. März 2024 wurde in Amsterdam, ca. 550 m Gehweg vom Joods Museum entfernt, das erste Holocaust-Museum in den Niederlanden eröffnet, das diese Schicksale beleuchtet.

35.2 In Frankreich
Mit einer katholischen Reisegesellschaft aus meiner Geburtsstadt fuhr ich im Rahmen des deutsch-französischen Jugendaustausches für einige Tage an die Loire nach Frankreich. Es gab zwar schon die EG, die Grenzkontrollen aber waren immer noch gründlich. In Le Mans nahm uns Abbe Pierre in Empfang und begleitete unsere kleine Gesellschaft, soweit es ihm seine Zeit erlaubte.
Meine Französischkenntnisse waren gleich Null, mit Englisch funktionierte es jedoch so oh, là, là. Ich war in einer Gastfamilie untergebracht, wo man offenbar nur Französisch konnte, aber irgendwie klappte die Verständigung zwischen denen und mir einigermaßen.

Spät abends, nach dem reichhaltigen und guten Abendessen, saßen wir alle vor dem Fernseher; es war vermutlich Anfang September 1966. - Plötzlich; eine riesige Wolke einer Atombombenexplosion auf einem Atoll im Pazifik war zu sehen. Allerseits Begeisterung! Ich starrte auf den Bildschirm, förmlich wie in Schockstarre, schüttelte leicht den Kopf und flüsterte ein „Nein“ vor mich hin. Das war der französischen Gastfamilie zu viel. Eine Kanonade von Beschimpfungen und Wutgeschrei prasselte auf mich ein. Ich hörte nur noch „Nazi ... Nazi … Nazi“. Energisch schüttelte ich den Kopf und versicherte, weder „Nazi“ zu sein, noch solche zu kennen. Der Abend war gelaufen: Ekel und Hass entnahm ich ihrem Verhalten mir gegenüber.
Als es hieß, von unserer Gruppe Abschied zu nehmen, war um mich herum fröhliches Lachen, Rufen, Singen zu vernehmen, hier und da flossen auch ein paar Tränen; nur ich stand da, ganz allein, abseits. Aus „meiner“ französischen Familie war niemand anwesend.

Wenige Jahre später, ein völlig anderes Erlebnis in Frankreich: Ich war mit Freunden in Paris. Eine Gruppe junger, fröhlicher Menschen kam auf uns zu. Einige fragten uns auf Deutsch, ob wir Deutsche seien. Als wir es bejahten, forderten sie uns auf, zu raten, wo sie wohl her seien. Alles was wir nannten, war total daneben. - Sie waren aus Israel, sie waren Juden, und sie gaben uns allen freudestrahlend die Hand. Das war für mich unbeschreiblich!
Jahrzehnte später hörte ich in Paris vereinzelt noch ein verächtliches „les boches“. Dahingegen kamen häufiger junge Menschen beschwingt auf mich zu und wollten unbedingt Deutsch mit mir reden, um unsere Sprache zu trainieren.

Frankreich ist ein schönes Land und ich bin sehr froh darüber, dass der deutsch-französische Jugendaustausch letztendlich funktioniert hat, wir alle gemeinsam in der EU sind und - bei aller Unterschiedlichkeit - eine Verständigung und Zusammenarbeit möglich geworden sind.

35.3 Budapest
Im Frühling 1968 unternahm ich eine vom Kölner AStA organisierte Busreise nach Budapest, der Hauptstadt Ungarns. Es war also eine Reise in den damaligen Ostblock. Als der Bus auf die Nordalpen zu fuhr, empfand ich das sehr beklemmend; für mich war es so, als führen wir direkt auf eine dunkle Wand zu. Auf späteren Reisen durch die Alpen legte sich dieses unbehagliche Gefühl leicht; auf der Südseite der Alpen fühlte ich mich allgemein gut.
Wir erreichten die österreichungarische Grenze und wurden scharf kontrolliert, einige von uns sogar am Körper. Gepäck, Handtaschen wurden genau untersucht. Auf der Rückreise, an der ungarischösterreichischen Grenze, war die Kontrolle noch grässlicher. Grenzbeamte stocherten mit langen Eisenstangen im Gepäckraum des Busses herum. Sie suchten akribisch nach möglichen Flüchtenden. Mir reichte es vollends.

Die Stadt Budapest gefiel mir; sie ist eine der schönsten Hauptstädte Europas, wenn nicht sogar die schönste. Auch die Menschen mochte ich auf Anhieb und bedauerte sie zugleich, besonders wegen ihrer Unfreiheit.
Unsere Reisegesellschaft war in einem wunderschönen Hotel in Bahnhofsnähe untergebracht. Mit Ilse, einer Kommilitonin und späteren Freundin von mir, teilte ich das großzügige Hotelzimmer. Fürstlich kam mir hier alles vor, die Bedienung, alles war exzellent und alles kostete uns wenig, auch die Dienstleistungen waren billig. Ilse und ich ließen uns von Kopf bis Fuß stylen, für sehr wenig Geld; ich sah aus! Ich erkannte mich nicht wieder: Overstylt!
Vom Reiseleiter erhielten wir alle den eindringlichen Rat: Sollten wir das Hotel verlassen, um die Stadt auf eigene Faust erkunden zu wollen, das unbedingt nur in Kleinstgruppen zu unternehmen. Und das vor allem am 4. April, dem ungarischen Nationalfeiertag, der für uns interessant war, mit all den Darbietungen der farbenfrohen Militärgruppen und Reiterstaffeln. Ungarn feierte an diesem Tag die Befreiung von der deutschen NS-Schreckensherrschaft 1945 mit Hilfe der Sowjets.
Auf Schritt und Tritt wurden wir beobachtet, das war leicht zu erkennen und so nicht zu übersehen: Herren mit Sonnenbrille auf der Nase saßen immer im Foyer des Hotels.
Geld zu tauschen mit irgendwelchen Menschen war strengstens verboten, aber manchmal tauschten wir doch kleine Beträge ein. Es war für beide Seiten sozusagen eine riskante „Win-win-Situation“.
Die Menschen, die uns draußen begegneten, waren freundlich, manche sprachen uns verstohlen an und fragten auf Deutsch, wo wir denn her seien. Offenbar erkannten sie uns schon von weitem als Westdeutsche.
Unser Eindruck bestätigte sich auf einem Folkloreabend mit sogenannter „ungarischer Zigeunermusik“. Unsere Gruppe saß ziemlich weit vorne. Als die Musik spielte, waren wir auch bald in bester Stimmung, wippten und schunkelten vor uns hin und summten bekannte Melodien mit. Wir konnten nur ein paar D-Mark für die Musiker zusammenlegen, denn als Studenten und Studentinnen hatten wir alle nicht viel Geld.
Die Begeisterung allerseits stieg und einer der Musiker erklärte uns auf gebrochenem Deutsch, dass die dahinten Sitzenden auch Deutsche seien, aber anders als wir. Seine Mimik und Gestik sprachen Bände. Wir übersetzten das für uns als „Miesepitter“; das war eine große Reisegruppe aus der ehemaligen DDR.

35.4.1 Tramptour durch Finnland und Norwegen
Zuhause erklärte ich, mit Ilse auf eine fünfwöchige, geografische Exkursion durch Skandinavien zu gehen.
Am 19. Juli 1969 starteten wir. Ein finnischer Student nahm neben seinem Freund auch Ilse und mich in seinem alten, grauen, klapprigen VW von Köln aus bis in sein Heimatland mit. Marisol, meine spanische Kommilitonin, hatte das für uns Beide organisiert.
Am Puijo bei Kuopio waren Ilse und ich nun auf uns alleingestellt. Da in der Nähe weder ein Geschäft noch ein Gasthaus, eine Kantine oder ähnliches war, ernährten wir uns von Blaubeeren, die um den Turm herum in Massen wuchsen. Nun begann unser Abenteuer. Wir trampten!
Auf der Fahrt nach Kemi bog der finnische Fahrer eines Kleinlasters plötzlich mit uns in einen schmalen Seitenweg ein. Ilse und ich wurden sehr nervös. Er verstand uns nicht, wir ihn auch nicht. Er sprach kein Englisch und wir weder Finnisch noch Russisch. Die Kommunikation gelang mit einer Art Zeichensprache, wobei unsere kleine Straßenkarte dabei eine wichtige Rolle spielte. Er fuhr und fuhr und unvermittelt hielt er an, wies auf einen vor uns liegenden, malerischen See und sprach mit lauter Stimme: „Ruski bumm, bumm! Wir interpretierten ihn so: Hier hatten die Finnen die Russen besiegt, indem sie sie in die Sümpfe und diesen See hinein getrieben hatten. Er brachte uns Beide dann sicher an unser Tagesziel.

Finnen, die uns auf ihrer langen Fahrt gern mitnahmen, waren sehr freundlich zu uns, wenn sie begriffen, wo wir herkamen und was für einen langen Weg wir bereits hinter uns hatten. Die Verständigung war - wie schon erwähnt - nicht ganz einfach, aber gelang. Wir fuhren hunderte von Kilometern, durch die finnischen Wälder und an Seen entlang.
Auf einer solchen Fahrt, sagte plötzlich ein Fahrer: „La, la, la“. Ilse und ich verstanden diese Aufforderung und sangen los, alle Lieder, die uns so einfielen, manchmal auch zweistimmig. Es muss schön gewesen sein, denn dem Mann kamen die Tränen.
Er besorgte uns eine gute Unterkunft und organisierte auch, dass wir weiter nach Norden mitgenommen wurden. Unser Ziel war Kiruna in Schweden.

Hinter Rovaniemi und Muonio wurde es besonders für mich interessant. Wir waren bei den Samen angelangt. Menschen mit vornehmlich braungebrannter, von Wind und Wetter gegerbter Haut und glänzend schwarzen Haaren. Viele von ihnen waren bunt gekleidet, wobei die Farben rot und auch blau vorherrschten. Und daher wurden sie auch von Vielen herabwürdigend „Lappen“ genannt, ein ganz gemeines Schimpfwort, eine Beleidigung dieser in der Tundra lebenden Menschen, deren Existenz in der Hauptsache von der Rentierzucht abhängig ist.
Als Ilse und ich aus dem Auto stiegen, trauten wir unseren Ohren kaum, alle Umstehenden riefen uns fröhlich lachend „Heil Hitler!“ zu. Vor Entsetzen und Scham versanken wir Beide fast im Boden. - Das darf doch nicht wahr sein, was hat das denn zu bedeuten? - Wir wurden herumgeführt und in ein buntes, sehr gemütliches Wohnzelt eingeladen. In einem als Gemeinschaftsküche umfunktionierten Bauwagen, bekamen wir wunderbares Essen, für ganz wenig Geld. Was wir genau zu essen vor uns hatten, wussten wir nicht; es schmeckte uns jedenfalls sehr gut.
Den Donnerbalken für das „Kleine Geschäft“ lernten wir auch kennen. Alles mutete uns ungewohnt freizügig an.
Nach kurzer Zeit klärte sich auch die verwirrende Art der Begrüßung für uns auf. Die Finnen und speziell die Samen waren deutschfreundlich, weil sie uns Deutsche als ihre Partner im Kampf gegen die Sowjetunion verstanden und auch die - erst, knapp zwanzig Jahre alte - Bonner Republik, als eine Garantin ihrer Freiheit ansahen.

35.4.2 Die unverhoffte Fahrt zum Nordkap
Wir standen wieder an der Straße und wollten nach Kiruna, um von dort aus mit der Kiruna-Narvik-Bahn, von einem der mit Erz beladenen Güterzüge, nach Narvik an die norwegische Atlantikküste mitgenommen zu werden. Kein Auto weit und breit in Sicht. „Wo übernachten wir wohl heute? Hier ist ja auch nirgends ein Haus oder so etwas zu sehen.“ „Es ist jetzt kurz vor 19:00 Uhr, gut es bleibt hell, aber irgendwie müssten wir jetzt einen Unterschlupf für diese Nacht finden.“ Während wir marschierten und so überlegten, wurde mir doch ein wenig mulmig, denn ich fühlte mich für uns Beide verantwortlich; immerhin hatte ich Ilse zu dieser gewagten Unternehmung überredet und sie verließ sich auch voll und ganz auf mich, das spürte ich. Wir waren müde, denn der Tag war anstrengend gewesen. In der Stille hörten wir plötzlich Motorengeräusch, ein PKW fuhr an uns vorbei und hielt weit vorne. Aus dem Auto stieg ein großgewachsener, junger Mann, stellte sich auf gebrochenem Deutsch als dänischer Tramp vor. Er erklärte, dass der Fahrer Norweger sei und nach Honningsvåg fahre und von dort aus konnten wir ganz leicht zum Nordkap gelangen, wenn wir das möchten. Ich dachte, ich hör nicht recht. Sofort stimmten wir - alle Bedenken in den Wind schlagend - zu. Im Kofferraum des Autos lag ein Rucksack mit dänischer Flagge. Es war also wahr, was der Tramper erzählte. Unsere Rucksäcke wurden auch verstaut. Zu viert fuhren wir nun durch die Tundra und eine atemberaubend schöne, gebirgige Landschaft nach Norden; wir waren in Norwegen. Die Sonne schien die ganze Zeit. Mitten in der Nacht um ein Uhr, kamen wir in Honningsvåg an. Spielende Kinder tobten noch auf der Straße herum, sogar kleine Kinder und schauten, was da jetzt angekommen war. Erwachsene zogen sich diskret zurück, das fiel uns auf. Wir Drei übernachteten im Freien. Es war kalt, soeben über Null Grad Celsius und wir warteten auf die Fähre, mit der wir am Morgen des bereits angebrochenen Tages auf die Insel Magerøya übersetzen wollten. auf die Insel Magerøya übersetzen wollten. In einem Eddahotel konnten wir schlafen und uns wieder erholen. Mit einem Linienbus ging es gegen Abend zum Nordkap. Am Nordkap war es für uns langweilig. Durch den dicksten Nebel erkannten wir nichts, rein gar nichts, nicht einmal die Nordkapnadel. Das einzige Reisezentrum dort war von Touristen überlaufen; es waren hauptsächlich amerikanische Gäste. - Ich war maßlos enttäuscht. So fuhren wir direkt nach Mitternacht mit der ersten Möglichkeit, die sich uns bot, wieder zurück nach Honningsvåg in unser Eddahotel.

35.4.3 Die Fahrt mit einem Schnellboot
Die Schnellbootfahrt von Hammerfest nach Tromsø war für Ilse und mich - ungeachtet aller Unbill - sensationell. Wir standen die gesamte Fahrzeit - trotz steifer Briese - oben an Deck. Und das hatte einen Grund: Den Gestank nach Essen, Fusel und Erbrochenem im Inneren des Bootes hielten wir nicht aus. Die Fahrgäste, wieder vornehmlich aus den USA, waren fast alle seekrank geworden.
Ilse und ich hatten uns an Deck an der Reling festgekrallt. Zum Glück hatten wir dicke Handschuhe dabei. Das Schiffspersonal schaute während der Fahrt regelmäßig nach uns, besorgt darüber, wir könnten unbemerkt über Bord gehen. Sie bestätigten uns mehrmals, dass die Zustände im Schiffsinneren schlimm seien und wir besser an Deck bleiben sollten.
Der Himmel war verhangen. Die Gischt traf uns ungewohnt hart. Vom Festland konnten wir nicht viel erkennen, sehr schade!

35.4.4 Der Cabriofahrer
Wir hatten nun den Hauptteil unserer abenteuerlichen Skandinavienreise hinter uns und befanden uns sozusagen auf unserer langen Heimfahrt durch Norwegen. Bisher hatten wir immer Glück gehabt. Wir brauchten nie lange zu warten bis ein Autofahrer uns sah, anhielt und uns ein Stück des Weges mitnahm. Nun standen wir wieder an der E6 auf dem Weg nach Süden. An diesem Tag lief es nicht ganz so gut wie sonst, nur wenige Autos waren unterwegs. Der Mittag war vorbei und wir hatten Hunger und kaum etwas zu essen bei uns. „Schau, da kommt einer angebraust! Ob der uns wohl mitnimmt? Wir versuchen es“, rief Ilse mir zu, denn ich suchte gerade die Hecken in unserer Nähe nach reifen Früchten ab. Das Auto schoss an uns vorbei und hielt aber tatsächlich etwas entfernt an. Wir liefen hin; unsere Rucksäcke wurden verstaut und der Fahrer des schmucken Wägelchens, ein gut situierter Herr, mittleren Alters, brauste mit uns davon. Ilse unterhielt sich angeregt mit ihm, über Allesmögliche, sozusagen, über Gott und die Welt. Sie sprach perfektes Oxfordenglisch. Ich saß hinten, stumm und schaute, mal rechts, mal links, zu den Autofenstern hinaus, überwältigt von dem Anblick der an uns buchstäblich vorbeifliegenden, grandiosen Landschaft Norwegens, atemberaubend! So etwas Wunderschönes hatte ich noch nie gesehen.

Die Fahrt war lang. Wir sollten am Abend Trondheim erreichen und der Mann - er war Trondheimer - wollte uns zu einem guten Eddahotel bringen „Are you from Londen?“, fragte er Ilse unvermittelt. Sie antwortete fröhlich: „No, we both are from Colonge.
Ein quietschendes Geräusch, ich flog nach vorn und wieder zurück in den Autositz; der Wagen stand, der Fahrer stieg aus, öffnete die Beifahrertür und schrie: „RRRaußßß!!“ Völlig verdutzt stiegen wir aus, die beiden Rucksäcke flogen uns nach und der Herr brauste davon.

Wir standen nun wieder an der Straße, aber wo? Kein Haus, kein Verkehrsschild, kein sonstiger Hinweis, kein Auto. Wir rätselten und marschierten los. „Guck mal, Ilse, da vorne, was soll denn das? Das sieht aber komisch aus, guck, das Auto fährt ja rückwärts, oder was?“ stammelte ich und Ilse, die bereits einen Führerschein hatte, bestätigte meine Beobachtung. Es war der „flotte Schlitten“. Kurz vor uns hielt er an. Der sonore Herr stieg aus, sprach uns auf Deutsch - mit leichtem norwegischem Akzent - an und erklärte uns, dass er uns hier nicht allein stehen lassen wolle, dass wir zwar Deutsche, aber noch zu jung seien, um mit den Verbrechen, die Deutsche hier begangen hatten, irgend etwas zu tun zu haben. Betreten stiegen wir wieder in seinen Wagen. Kurz vor dem Eddahotel in Trondheim brach er das Schweigen und forderte von uns mit Nachdruck auf Deutsch, gleich am nächsten Tag, das Museum der Stadt zu besuchen. Wir versprachen das zu tun und gingen auch dort hin.
Was wir da sahen, war grauenhaft. Eine Sache blieb mir besonders in Erinnerung: Eine ganz enge, gläserne Einmannzelle in der oben eine große, elektrische Glühbirne angebracht war, die grelles Licht und Hitze ausstrahlte. Es war ein Folterinstrument der Deutschen, um von einer Person Geständnisse zu erzwingen.
25.03.2024 p

 

 

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