GeschichtenB3

 

6. Das Leben in Dortmund

6.1 Agnes ist wieder bei ihren Eltern
Die beiden Mädchen liegen zusammengerollt in dem großen Kinderbett, das ihr Vater für sie aus zwei kleinen Betten gezimmert hat. Mutter und Vater betrachten ihre beiden Kinder. „Agnes ist groß geworden“, flüstert er seiner Frau zu und umarmt sie kurz aber herzlich. „Die lange Fahrt hat gut geklappt, auf meine Kollegen ist Verlass. Wir Eisenbahner halten zusammen und unterstützen uns, wenn´s irgendwie geht. Wenn ich sie selbst hätte holen müssen, wäre das für uns sehr aufwendig geworden“, ist sich der Vater sicher. „Jetzt wird sie in die Schule kommen, hoffentlich geht alles gut“, wünscht sich ihre Mutter. „Ich muss meiner Mutter noch einen Dankesbrief nach Ostpreußen schreiben. Die haben dort viel für uns getan, dadurch, dass sie Agnes aufgenommen hatten. Nun wird sie sich hier einleben müssen, vieles wird ihr sehr fremd sein.“ „Wenn sie nach mir rauskommt, schafft sie es spielend“, frotzelt er seiner lieben Frau gegenüber und lacht leise. Sie gehen gemeinsam zurück in die Wohnküche, denn es gibt noch einiges zu tun und zu besprechen.

Als Agnes aufwacht, ist es schon etwas hell und sie erkennt die neue Umgebung. Die Wände tragen eine grünlich gemusterte Tapete, die Möbel sind sehr dunkel und das Fenster ist groß. Sie steht vorsichtig und leise auf, um Trudchen nicht aufzuwecken, geht durch den Flur und entdeckt ihre Mutter in der Küche. Die beiden nehmen sich leise in den Arm und drücken sich ganz fest und wünschen sich einen guten Morgen. Martha ist erstaunt über das gute Benehmen ihrer Tochter, denn die ist ja jetzt erst sechs Jahre alt. Als sie so alt war, hat sie sich noch wie ein Kleinkind benommen. Sie ist stolz auf dieses Mädchen, aber sie sieht schon, die ist völlig anders als das stille, sanfte Trudchen. Ihr Mann hat recht, „Agnes schlägt mehr nach ihm“.
Auch Trudchen kommt - noch ein wenig verschlafen - in die Küche. Sie setzt sich wortlos auf ihren Platz am Küchentisch und schaut Agnes kaum an. Manchmal wagt sie einen verstohlenen Blick zu ihr herüber. Nach dem gemeinsamen Frühstück und der „Katzenwäsche“ spielen beide Mädchen dann doch zusammen in der Ecke mit Trudchens Puppe. Es wird etwas lauter. Die Mutter erklärt vorbeugend, dass sie sehr leise zu sein haben, wenn der Vater von der Arbeit müde nach Hause kommt. Nach dem Essen muss er dann sofort schlafen und es muss mucksmäuschenstill sein. Trudchen kennt das, nickt heftig und schaut Agnes dabei bedeutungsvoll an.
Sehr bald wird Agnes erfahren, was es bedeutet, wenn der Vater schon am helllichten Tag schlafen muss, um spät abends bzw. nachts zur Arbeit gehen zu können. Er kann sehr böse werden, wenn die beiden lauter werden und er nicht einschlafen kann oder zu früh aufwacht und dann nicht mehr weiter schlafen kann. Er packt Agnes, schnauzt sie an, keinen Mucks von sich zu geben und droht ihr Prügel an, wenn sie nicht augenblicklich auf ihn hört und ganz still ist. Sie ist die Ältere und hat vernünftig zu sein. Ihres Vaters Wutausbrüche können für sie dramatisch sein, das hat sie in den wenigen Wochen, die sie nun zu Hause ist, bereits mehrmals erfahren müssen und das bedrückt sie, denn sie hat ihren Vater sehr gern.
Draußen ist es anders, draußen kann sie toben und das tut sie gerne, sie ist recht wild in ihrer Art. Sie rennt, springt, klettert überall herum. Sie verhält sich mehr wie ein Junge, als wie ein Mädchen, urteilen viele.
Ansonsten verläuft ein Tag wie der andere und Agnes geht der Mutter schon ganz schön zur Hand. Sie verrichtet willig einfache Arbeiten im Haus und im Garten, zusammen mit ihrer Mutter. Trudchen hilft auch etwas, sie ist ja aber erst vier.

6.2 Agnes lebt sich recht schnell ein
Nun ist es endlich soweit, Agnes kommt in die Schule. Sie lernt leicht und kann bald sehr schön schreiben, „wie ne eins“. Auch das Lesen fällt ihr nicht schwer, trotzdem übt sie täglich nachmittags noch zusätzlich mit ihrer Mutter und liest, was ihr so unter die Finger gerät und ihre Mutter lernt mit und von ihrer großen Tochter. Mutter und Tochter verstehen sich recht gut und manchmal hat Agnes Angst davor, dass, wenn der Vater kommt und er sich irgendwie durch sie gestört fühlt, er sehr böse mit ihr sein und toben könnte und dadurch alles, was so gut ist, wieder verdorben ist. Das macht ihr Angst, große Angst. Meistens bleibt es aber friedlich, weil sich alle nach dem Vater richten, denn er gibt den Ton an, er ist ja das Oberhaupt der Familie und das lässt er allen gegenüber auch klar durchblicken. Es wird gemacht, was er sagt!

Die Zeit vergeht und sie hat sich allmählich eingelebt. Vieles ist anders als in Ostpreußen, vor allen Dingen ist die Luft anders, es ist nicht so windig und nicht so frisch. Manchmal riecht es so, als wäre sie in dem Räucherbüdchen des „anderen Opa“ und alles ist dreckig, fasst du etwas an, hast du schon schwarze Hände, selbst in den Nasenlöchern ist Schwarzes.

Inzwischen geht auch Trudchen in die Schule. Sie ist im Gegensatz zu ihrer älteren, forschen Schwester Agnes, ein stilles, sanftes Kind. „Sie gehorcht aufs Wort“, wenn man ihr etwas sagt und tut ohne jeden Widerspruch, was ihre Eltern von ihr verlangen. Vor allem ihre Mutter mag sie lieber, als ihre stürmische und leicht widerspenstige Tochter Agnes, das zeichnet sich immer deutlicher ab. Agnes kümmert sich nicht so sehr um Trudchen, sie hat in der Schule und in der Nachbarschaft gleichaltrige Spielgefährtinnen gefunden.
Ihre Zeit ist jedoch ziemlich begrenzt, denn sie hat immer mehr Aufgaben zu erledigen und ihren Freundinnen geht es zu Hause ähnlich. Im Sommer und Herbst geht Agnes „in aller Herr Gotts Frühe“ - noch vor dem Schulbesuch - mit ihrer Mutter in den Garten und erntet reifes Gemüse, schneidet Kräuter und Blumen, die ihre Mutter dann putzt und in kleine Bündchen und Sträußchen bindet für den Verkauf auf einem Wochenmarkt, „so taufrisch, wie nur möglich“.
Seit geraumer Zeit hat Agnes eine Ziege zu versorgen. Täglich, „bei jedem Wind und Wetter“, muss sie das Tier auf den mit Gras und Gestrüpp bewachsenen Bahndamm zum Äsen führen, denn die Garten- und Küchenabfälle allein reichen nicht, um es satt zu kriegen. Diese Ziege ist nicht einfach, manchmal ist sie fürchterlich bockig und dann geht nichts mehr. Eine Ziege wird im Kohlenpott auch „Bergmannskuh“ genannt, weil „die kleinen Leute“ sich nur so ein genügsames Haustier leisten konnten. Die Ziege ist für Agnes´ Familie der wichtige Milchlieferant. Am Anfang hat ihre Mutter die Ziege gemolken, inzwischen kann es Agnes auch. Manchmal tritt die Ziege wild um sich. Im Allgemeinen aber kommt Agnes mit ihr gut klar. Das geht ein paar Jahre so, bis die Ziege an einen Metzger verkauft wird.
Auch Hühner laufen im Garten zwischen den Sträuchern herum und sitzen am Abend auf der Stange im Schuppen, den ihr Vater mit einem Nachbarn errichtet hat. Die Eier teilen sich die Familien untereinander auf.
05.10.2022 p

6.3 Ein Schicksalsschlag, der auch Agnes hart trifft
Agnes kommt aus der Schule. Sie betritt soeben das Haus, da hört sie ihre Mutter schreien: „Agnes, Agnes lauf zum Doktor und hol ihn. Trudchen, Trudchen kriegt keine Luft mehr. Lauf, Agnes, lauf so schnell du kannst, bitte!“ Agnes fragt nicht, sie wirft den Tornister in eine Ecke und rennt, sie rennt. Sie kann rennen und ist auch schon wieder zurück. Oben in der Wohnung angekommen, ist sie förmlich außer Atem. Trudchen ringt auch nach Luft, sie schnappt, wie ein Fisch außerhalb des Wassers, nach Luft. Der Anblick ist furchtbar. Der Doktor kommt auch schon. Agnes muss das Zimmer verlassen. Zusammengekauert hockt sie alleine in der Küche: „Was ist, was ist bloß mit Trudchen?“ Der Doktor kommt kurz zu ihr in die Küche, ermahnt sie tapfer zu sein und verlässt die verstörte Familie. – Trudchen ist tot!
Agnes versteht das nicht. Gestern vor dem Zubettgehen haben sie beide doch noch zusammen gespielt und Trudchen hat die eine Geschichte aus der „Gartenlaube“ vorgelesen.
Sie hatte sich für Trudchen nicht sonderlich interessiert. Nun macht sie sich bitter böse Vorwürfe. sie hätte besser auf die kleine Schwester aufpassen sollen, dann würde Trudchen sicherlich noch leben. Sie würde sich jetzt immer um Trudchen kümmern, wenn sie doch wieder lebendig würde. Agnes ist „wie vor den Kopf geschlagen“ und untröstlich. Essen mag sie nicht mehr. Sie bewegt sich nur noch mechanisch, wie eine Maschine. Alle sehen das: Die Nachbarn, ihre Freundinnen, die Lehrerinnen, der Pfarrer. Ihre Eltern sind selber tottraurig, aber alle versuchen ihr zu erklären, das niemand Schuld ist und sie schon gar nicht und dass das ein „Bazillus“ war, der die Atemnot ausgelöst hat und dass es sehr schnell ging und jede Hilfe zu spät kam und Trudchen nun leider tot ist, „aber keiner kann etwas dafür.“.
Alle sind schwarz gekleidet, auch Agnes. Sie hat ein wunderschönes, schwarzes Kleid bekommen. Es ist so ähnlich, wie das ihrer Mutter. Wo das so schnell her kam? - Die Nachbarinnen haben sich zusammengesetzt und flink genäht. Von ihrer Mutter hatten sie sich zwei alte Kleider als Modelle erbeten.
Nun sitzt Agnes zusammen mit ihrer Mutter auf der linken Seite und ihr Vater, alleine zwischen fremden Männern, auf der rechten Seite der Kirche. Es wird gesungen und gebetet, sie aber ist still. Dann steht sie am offenen Grab, willenlos. Sie sieht kaum etwas, die Augen brennen, weinen kann sie nicht.
Viele Leute sind da, aber Trudchen ist nicht mehr da, Agnes kann es nicht fassen, sie kann es nicht begreifen, sie kann es nicht glauben!
Zu Hause gibt es Sandkuchen, die Nachbarn haben ihn gebacken. Ihre Mutter hat Kaffee zubereitet und sie, Agnes, bekommt Kakao. Obschon sie Sandkuchen gerne ißt, bekommt sie jetzt keinen Bissen herunter.

Noch am Abend suchen ihre Eltern und sie eine Photographie von Trudchen heraus und stellen sie - umrahmt von einer schwarzen Spitze - neben das Kreuz und die beiden Heiligenfiguren. Das Vertiko mit dem dazugehörigen Aufsatz wird zu einem Trauer- und Hausaltar umgestaltet. Am nächsten Tag holt sie Blumen vom Wegesrand und stellt sie in ein Glas mit Wasser. Fast täglich sorgt sie für frische Blumen und blühende Kräuter, am Hausaltar. Die Blumen im Garten sind für den Verkauf auf dem Wochenmarkt bestimmt.
Manchmal pflückt sie nur ganz verschiedene Grashalme, solche Sträuße gefallen ihr besonders.

Ihre Mutter ist krank und sie, Agnes, muss mehr tun als sonst. Der Doktor hat ihr erklärt, dass die Mutter keine weitere Aufregung erleben darf, dass sie aber bald wieder gesund wird, wenn sie, Agnes, gut für sie sorgt und „ihr jegliche Arbeit abnimmt“. Agnes schuftet, sie hat keine Zeit mehr, für niemanden. So ist sie abgelenkt, sie pflückt immer noch Blumen und Kräuter, aber denkt schon weniger an ihre tote Schwester
Sonntags, nach der Nachmittagsandacht, gehen sie alle Drei zum Grab und beten für Trudchen. Sie beten oft für Trudchen und manchmal auch für alle „im Krieg gefallenen Soldaten“, denn es ist Krieg! Das Deutsche Reich ist schon eine Weile im Krieg mit vielen Ländern, das hat sie auch in der Schule gehört und sie wird bald 10! Sie weiß: Der „Todfeind“ ist im Westen, das „ist der Franzmann“.

In der Schule war Agnes letzter Zeit nicht so gut, jetzt geht´s aber wieder und sie ist eine der besten Schülerinnen. Agnes ist ernster geworden und nicht mehr so wild, wie früher, aber Turnen findet sie immer noch gut, sie kann sehr schnell laufen und Bälle weit werfen. Sie handarbeitet auch gerne und ihre Mutter hat oft famose Ideen und zeigt ihr einige Kniffs. Ihrer Mutter ist wieder gesund geworden; die beiden verrichten die Arbeiten in Haus und Garten wie früher gemeinsam. Auch der Vater ist besonnener geworden, er spricht nicht viel, manchmal schaut er sehr traurig drein. Es ist schon länger friedlich zu Hause, irgendwie ist nach Trudchens Tod Vieles anders geworden. Sie hören häufiger Musik - Kirchenlieder und Klassik - mit ihren Schellackschallplatten und dem Parlephon.
07.10.2022 p

6.4 Agnes und ihre Eltern fahren noch einmal nach Ostpreußen
Nach Trudchens plötzlichem Tod sorgen sich jetzt alle verstärkt um Agnes, was sie selbst jedoch zunächst nicht so wahrnimmt.
Der Krieg ist irgendwie spürbar, aber auch wieder nicht. Es wird darüber geredet, in der Schule, in der Kirche fallen Bemerkungen, die sie - als inzwischen 10jährige - nicht immer versteht und einordnen kann. Ihr Vater vor allem ist zwar streng mit ihr, aber er macht sich auch Sorgen um sie.
Ihre Eltern planen noch einmal eine Reise nach Skirvitell zu ihrer Oma; natürlich freut sie sich darauf. Sie wird alle wiedersehen, nur den „anderen Opa“ nicht mehr, denn der ist auch gestorben.

Die Reise war bequem und kam ihr nicht lange vor, jedenfalls nicht so lange wie damals, als sie mit dem Zug alleine nach Hause fuhr.
Ihre Oma, die Mutter ihrer Mutter, war schwach geworden und auch traurig, nur Tante Ida war noch so lieb und heiter, wie früher. Inzwischen war das Haus „an allen Ecken und Enden“ kaputt. Vor allem das Strohdach war undicht geworden und die Fensterrahmen waren stark verwittert, fast verfault. Ihr Vater reparierte einiges notdürftig.
Als ihre Eltern beschlossen, wieder nach Dortmund zurück zu fahren, wurde vorher gepackt: Reisekörbe und große Koffer wurden beschafft und vollgeladen, denn die Oma sollte zusammen mit ihnen nach Dortmund fahren. Tante Ida sollte noch etwas bleiben, denn sie musste „alles abwickeln“ und würde später alleine auch nach Dortmund kommen.
Ihre Oma war nun bei ihnen in Huckarde angekommen. Sie konnte sich jedoch kaum einleben, denn sie war schwach, wurde schwer krank und starb bald. Alles war sehr traurig, sehr, sehr traurig! - Aber das Leben ging weiter.

6.5 Der Krieg ist vorbei
Der Krieg war zu Ende; er hatte vier und ein Viertel Jahre gedauert. „Der Kaiser war weg gelaufen“, hieß es. Er war „bei Nacht und Nebel“ aus Berlin verschwunden.
Viele „fremde Töne waren zu hören“, „französische Besatzer“ waren da.

Vater und diesmal auch Mutter durften wählen. Ihre Mutter konnte zum ersten Mal in ihrem Leben wählen. Agnes nahmen sie nach dem Hochamt in der Kirche mit in „das Wahllokal“. Die Wahl war „streng geheim“ aber sie wusste genau, wen ihre Eltern wählen.
Sie hatte Plakate gesehen, einige gefielen ihr gut, aber manche fand sie furchterregend. Die Eltern und sie sind katholisch, also gibt´s nur eins, „die Zentrumspartei“ wurde gewählt, das war absolut klar, „da gab´s kein Vertun“.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II war nun in Holland. Deutschland war eine Republik geworden. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus!“ „Puh, Gewalt!“, das hörte sich für Agnes nicht gut an. „Gewalt“ mochte sie nicht, gar nicht, überhaupt nicht. Diese Republik war nicht in Berlin ausgerufen worden, sondern in der Stadt, in der früher Goethe und Schiller gelebt hatten. Die Stadt heißt Weimar und sie soll recht hübsch sein, aber viel kleiner als Dortmund, nur Berlin ist ganz groß, hat ihr Vater ihr erklärt.

Immer mehr Franzosen und Belgier kamen in den „Pott“. Ihr Vater war beunruhigt; er ahnte nichts Gutes. Die Eisenbahner mussten sehr auf der Hut sein und Züge und Bahngelände bewachen, Sabotage passierte. Vater war Beamter, er diente dem Staat. Und sie musste zu Hause wieder sehr leise sein, um den Vater nicht zu erzürnen.

6.6 Aufmärsche und Krawalle in Dortmund
Draußen war es aber manchmal sehr laut. Leute marschierten durch die Straßen, schwangen Fahnen und brüllten etwas, was sie meistens nicht verstand.
Wenn sie in solch einen Aufmarsch hineingeraten sollte, soll sie machen, dass sie in eine Seitenstraße kommt oder in einem Hauseingang verschwindet. Wenn es dann ruhig geworden ist, kann sie wieder herauskommen und so schnell sie kann nach Hause laufen, das erklärten ihr ihre Eltern. Ein junger Mann aus dem Nachbarhaus war brutal zusammengeschlagen worden und keiner wusste von wem. Er war zwar gesund geworden, aber danach „nicht mehr klar im Kopf“. Arbeiten konnte er nicht mehr, er bettelte.
In Huckarde waren solche Aufläufe aber äußerst selten, denn dieser Stadtteil liegt von der Stadtmitte doch ein Stück entfernt. Um den Hauptbahnhof herum, auf dem Westen-Hellweg, Hansaplatz und in den Wall-Straßen war zeitweise kein Durchkommen mehr, wenn sie marschierten. Meistens waren es Männer, nur wenige Frauen waren unter ihnen, auch furchtbar entstellte und verkrüppelte Menschen sah sie in der Menge. Solche Märsche konnten zu Krawallen ausarten. Manchmal hörte sie auch Schüsse. Es machte ihr schon Angst, aber nur ein bisschen, sie ist nicht ängstlich.

Wenn wir marschieren Seit´ an Seit´ …“, das Lied kannte sie, fand es schön und wenn sie das hörte, sang sie es mit. Sie sang überhaupt gerne und ihre Mutter auch. Ihr Vater hörte den Beiden manchmal zu und brummte sich auch „etwas in den Bart“. Einen Bart trug er zwar nicht, aber einen Schnauzbart.

Wenn sie 20 oder mehr ist, darf sie auch wählen und sie weiß auch schon wen - Friedrich Ebert - den findet sie gut, den wird sie wählen, das hat sie sich vorgenommen, wird es aber niemandem verraten.
15.10.2022 p

 

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