GeschichtenB4

 

7. Agnes „Lehr- und Wanderjahre“

7.1 Die Schulzeit ist vorüber – Was soll Agnes lernen? Was soll sie werden?
Ihre Mutter und sie überlegen. Agnes kann schön handarbeiten. Sie interessiert sich für Stoffe und Moden. Einiges hat sie schon selbst entworfen und das nicht schlecht, das sagen viele, die ihre Zeichnungen gesehen haben. Auch die von Agnes überarbeiteten Schnittmuster sind unter Freundinnen und Bekannten, auch Nachbarn, teils sehr begehrt.
Beide beschließen mit einigen ausgewählten Exponaten beim „Juden Baum“ vorstellig zu werden. Vielleicht darf Agnes bei ihm in die Lehre gehen. Es klappt, er nimmt sie gerne und sie lernt viel und willig. Sie kennt fast alle Stoffarten, ist recht farbsicher und kann die Naturfasern, wie Cartoon, Linnen, Nessel, Wolle unterscheiden. Auch Gewebearten sind ihr geläufig. Bald ist sie im Verkauf eingesetzt. Herr Baum ist begeistert von ihren Fähigkeiten. „Aber jetzt kommt der Hammer!“: Herr Baum eröffnet Agnes, dass er auf „die Unterschrift ihres Herrn Vater“ nicht länger warten kann. Agnes fleht ihn an und verspricht, dass ihre Mutter doch unterschreiben werde, die könne auch schreiben. - Josi ist beim Aufschreiben dieser Bemerkung zum Lachen zu mute, den Beiden aber war damals alles Lachen vergangen. - Es war bedrohlich ernst für Agnes. Vom Vater bekommt sie keine Unterschrift. Und nur er als Mann bestimmte über die Tätigkeiten seiner Frau und auch Tochter, so war das Gesetz. Alles Flehen, Flennen, Wimmern half nichts; die Lehre war beendet!
Ihr Vater bestimmt:„Du lernst kochen, denn du heiratest sowieso, dann kannst du wenigstens kochen. Kein Wort mehr darüber!.“

7.2 Kochenlernen wider Willen
Widerwillig lernt Agnes mehr schlecht als recht das Kochen. Allmählich findet sie sich hinein und mit der Zeit gewöhnt sie sich daran und beherrscht ein paar Kochkünste, die stutzig machen. Es hat einen Vorteil in dieser knappen Nachkriegszeit, sie weiß alles schmackhaft zu verwerten. Es gibt viele Eintöpfe, Pasten und Pastetchen. Aber richtig kochen kann sie nicht. Köchin ist sie zwar geworden, aber…, na ja.
Die erste Anstellung war nichts. Eine weitere gab´s nicht. Es gab auch kaum Arbeit und sonst nix, man bekam immer weniger zu kaufen, das Geld zerrann, sozusagen unter den Fingern. Es war bedrucktes Papier und das hatte keinen Wert. Die Familie besaß wieder eine Ziege und Agnes hütete auch diese wie bereits ihre Vorgängerinnen am Bahndamm. Mit ihrer Mutter zusammen bewirtschaftete sie den Gartenanteil und verkaufte die Produkte auf Wochenmärkten, manchmal auch an Hotel- und Krankenhausküchen.
Agnes ging zum „Steine klopfen“, der Mörtel wurde von alten, gebrauchten Bausteinen mit einem Hammer abgeschlagen ohne den Stein zu beschädigen. Und sie schneiderte zusammen mit ihrer Mutter und Tante Ida, die inzwischen auch in Dortmund lebte, Kleidungsstücke und Nützliches für den Haushalt. Auch ihr Opa - der Vater ihres Vaters - war aus Ostpreußen zu ihnen nach Dortmund gekommen. Er sagte kaum etwas und die Stimmung war schlecht, sobald ihr Vater und der alte Mann zusammen im Zimmer waren. Auch Agnes passte auf, dass Vater und Sohn nie alleine waren (s. Teil II, Kap 3.6).
So hatte auch der schweren Unfall Ihres Vaters die Familie hart getroffen. Agnes hatte sich große Sorgen gemacht, dass er das nicht überleben würde. Gott sei Dank hatte er alles letztendlich gut überstanden und sie war fast glücklich darüber. Er arbeitete wieder als Eisenbahner, bis er kranke Hände bekam. Es gab keine Hilfe für ihn. Die Aussichten waren düster.

7.3 Agnes hat Gönner
Agnes erhielt eine Depesche von Frau Baum. Fast feierlich wurde sie zum Kaffee im Hause Baum eingeladen. Agnes zog ihr neues, selbst geschneidertes Kleid an und nahm Blumen aus dem Garten mit. Frau Baum erkundigte sich ausgiebig über ihre derzeitige Lebensweise. Es folgten weitere Einladungen auch in Theatervorstellungen zur Matinee oder an Sonntagen in Kindervorstellungen am Nachmittag. Agnes genoss diese Kulturveranstaltungen, sie mochte vor allem Couplets. Herr und Frau Baum sahen in Agnes eine junge, talentierte Persönlichkeit, der sie in dieser Zeit aber nicht anders zu helfen wussten.
Ab und an bekam sie Stoffreste aus dem Geschäft geschenkt. Zu Hause wussten die drei Frauen geschickt etwas daraus zu machen. Das Erzeugnis half dann manchmal als Tauschobjekt. Außerdem wurde, ab dem Hochsommer bis in den Spätherbst, sogar Winteranfang hinein, eingemacht, eingelegt und gedörrt. Gemüse aus dem Garten und gesammeltes Obst und Beeren vom Wegesrand: So beispielsweise Holunder, Hagebutten und nach dem ersten Frost Schlehen, um nur einige Früchte zu nennen.
Die Baums mochten Agnes inzwischen sehr. Und sie spürte, dass die Familie ihr helfen wollte. Agnes Mutter hielt sich zurück, freute sich über den gesellschaftlichen Kontakt ihrer Tochter zu der anerkannten Familie. ihr Vater hatte dazu keine Meinung. Seine Tochter war Köchin, womit sie aber ihren Lebensunterhalt bestritt, dazu äußerte er sich nicht. Die Einladungen kommentierte er nicht. Dass Familie Baum jüdisch war, stellte für ihn kein Problem dar. Er kannte das „Gebrüll einiger“ gegen Juden, teilte deren Ansichten jedoch nicht. Auch unter den Eisenbahnern waren Juden, mit denen er seit Jahren zusammen arbeitete und deren Kollegialität er schätzte.
Frau Baum empfahl Agnes nach Holland zu gehen und dort eine Ausbildung für Haushaltsführung anzutreten Die Baums waren mit einer holländischen Generalsfamilie befreundet, die Agnes aufnehmen und unterstützen würde, denn die wirtschaftliche Situation - hier in der jungen Republik – nach dem Ersten Weltkrieg war für viele Menschen katastrophal, so auch für Agnes und ihre Eltern im Besonderen, denn der Vater war vorzeitig pensioniert worden und die Familie sollte die Dienstwohnung räumen, nicht „Hals über Kopf“ da war man großzügig. Das Leben in Dortmund wurde für sie alle mit der schmalen Pension des Vaters unerschwinglich.
Dieses Mal willigte auch ihr Vater ein und sie konnte im Dezember 1931 nach Haarlem bei Amsterdam, zu der Generalsfamilie, reisen. …

7.4 In Haarlem
Nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung, fühlte Agnes sich in Holland pudelwohl. Die Familie sprach Deutsch und sie lernte recht schnell Holländisch in Wort und Schrift.
Von ihr wurde einiges abverlangt, aber sie hatte auch freie Zeit, die sie zu nutzen wusste. Sie war in Vereinen, sang im Chor und spielte im Laientheater mit, vor allem Couplets. Diese vorzutragen, machte ihr einen riesigen Spaß.
Die Dame des Hauses war perfekt, schien es Agnes. Agnes lernte viel und gerne von ihr. Noch ein paar Mädchen arbeiteten in diesem Haushalt. Sonnabends musste das Personal alles machen, denn es war Sabbat. Schon freitags waren die Vorbereitungen dazu nötig. So war das immer. Aber sonntags machte die Dame alles alleine und gab den „meisjes“ frei. Wer in die Kirche gehen wollte, konnte das tun oder sonst wie die freie Zeit genießen. Sie konnten zu den Mahlzeiten kommen oder sich vorher abmelden. Das Personal genoss einen freien Sonntag.
Einige Male waren große Feste bzw. Feiern zu organisieren und auch Bankette mussten geplant, vorbereitet und bewältigt werden. Agnes lernte viel Neues kennen und auch zuzubereiten, so viele leckere, edle Gerichte und Kanapees. Auch die Desserts, die sie kennenlernte, waren manchmal beeindruckend fulminant. Die Frau des Generals konnte das alles, Agnes hatte große Hochachtung vor ihr. Es waren große Gesellschaften und interessante Gäste waren geladen. So begegnete ihr anlässlich eines Banketts einmal kurz, die ein paar Jahre jüngere Juliana, die spätere Königin Juliane. Agnes machte einen eleganten Knicks. Beide strahlten sich an und tauschten miteinander ein paar Höflichkeiten aus. Agnes war hin und weg und vergaß das nie mehr. Natürlich berichtete sie davon Jahre später auch ihrer Tochter Josi.
Über Deutschland hörte Agnes manchmal Beängstigendes. Der General hatte Agnes zu einer Nahkampfausbildung geraten und einen Kurs vermittelt; sie lernte, übte und konnte sich im Kampf behaupten. Er und seine Frau waren zufrieden: „Wie weet waarom het meisje het nog nodig heeft“.

7.5 Katastrophe - Agnes muss zurück nach Deutschland
Lange Briefe von zu Hause erreichten sie. Sie aber schickte meistens nur Ansichtskarten. Hier war es ganz anders, als im Kohlenpott, viel, viel schöner. Die letzten Briefe ihrer Mutter waren mit einem traurigen Unterton und dann kam´s: Ihr Vater schrieb kurz und knapp, dass ihre Mutter schwer krank sei und sie, Agnes, habe sofort und umgehend nach Deutschland zurückzukehren. Es war Ende Januar 1934. Aufregung, große Aufregung! Sie fühlte sich in Holland so wohl und jetzt musste sie zurück, in eine große Ungewissheit, denn ihre Eltern lebten nicht mehr in Dortmund, sondern in einem Dorf, in Nachbarschaft einer Kleinstadt, im südlichen Bergland. Ihre Mutter hatte dort eine Stelle als Schuldienerin angenommen und ihr Vater half ihr bei der schweren Arbeit: So musste sie ab dem Spätherbst bis Mai zur Schulzeit bereits ab morgens um sechs das Schulhaus heizen und täglich ab Mittag alle Räume putzen. Der Lohn war zwar gering, aber sie lebten in einer schönen, geräumigen Dienstwohnung und durften den großen Garten nutzen. Nun war ihre Mutter schwer krank und sie - Agnes - sollte die Arbeiten übernehmen, u. a. deshalb, damit ihre Eltern weiterhin in der Dienstwohnung bleiben konnten. Es war eine Crux.

Die holländische Familie verstand die Anordnung des Vaters von Agnes und organisierte schnell zusammen mit ihr ihre Heimreise. Alles ging sehr fix. Sie erhielt kleine, teils wertvolle Geschenke, die sie später zum Tausch einsetzten konnte.
Und schon war sie auf ihrer Reise zurück nach Deutschland.

An der Grenze wurde sie von Uniformierten taxiert, schikaniert und bedroht: Sollte sie es wagen, noch einmal nach Holland zu reisen, würde das hier „mit einem Genickschuß“ für sie enden. Sie war wie erstarrt. - „Vorsicht, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“, alles Mögliche schoss ihr durch den Kopf. Was sie in Holland über Deutschland gehört hatte, scheint wahr zu sein. Das verhieß gar nichts Gutes.
Man ließ sie reisen, eine lange Reise!
25.10.2022 p

7.6 Auf dem Lande
Agnes kam nach einer Reise, die - so schien es ihr - nie enden wollte, endlich an. In ein Dorf, nachts, im Dunklen, nur der Geruch war völlig anders, etwas Vergleichbares kannte sie nicht. Alles war ihr vollkommen fremd.
Ihre Mutter sah elend aus, völlig abgemagert, „nur noch Haut und Knochen“. Beide freuten sich darüber, sich endlich wieder zu sehen. Sie machte sich in den nächsten Tagen daran, die neue Umgebung stückweise zu erforschen. Die Mutter zu versorgen und alles was herumlag zu ordnen. Ihr Vater war für sie nur noch wie eine „Randerscheinung“. Dann ging´s ans eigentliche Werk, sie wurde nach sehr kurzer Eingewöhnungszeit „Schuldienerin“. Ihr Vater half auch ihr, wie bisher ihrer Mutter. Die beiden „schmissen den Laden“ einige Jahre. Zum Nachdenken kam Agnes kaum. Der „Kulturschock“, den sie erlitten hatte, wurde ihr erst sehr viel später bewusst. Aber was sollte sie machen. Sie hatte sich zu fügen. Langsam war die Mutter genesen. Sie schrieb auch mal der Herrschaft in Haarlem. Bekam auch ein paar Mal eine kurze, nette Antwort. Manchmal deuchte ihr auch, als wären Briefe geöffnet worden. Einmal schien ihr so, als sei in einem Schreiben ein Geldbetrag in Gulden gewesen, das hatte sie den freundlichen Zeilen entnommen. Der Umschlag war gekräuselt, wie über Dampf geöffnet und wieder verschlossen. Was aber sollte sie von sich schreiben. Die Korrespondenz „schlief ein. Jedoch die Zeit in Holland vergaß sie nie.

Hier lernte sie nur eins in dieser Zeit, „das Maul zu halten“. Aber was sie sah und hörte, gefiel ihr gar nicht. Ganz selten empörte sie sich vorsichtig, leise über das Aufgeschnappte ihren Eltern gegenüber. Ihr Vater stimmte ihr wortlos nickend zu und ihre Mutter weinte still vor sich hin.
Alle Drei vermissten Dortmund und die Freunde und Nachbarn. Es dauerte bis sie auch hier Fuß fassten und einige Bekannte hatten. Eine Familie im Dorf - sie waren Bauern - war ihnen sehr gewogen. Ihre Eltern bekamen nicht nur Milch und Eier sehr billig von ihnen, sondern sie verstanden sich auch gut und waren sozusagen auf der gleichen Wellenlänge.
Agnes verrichtete ihren Dienst und beackerte den Garten. Die Vegetationszeit war wesentlich kürzer als in Dortmund, da dieses Gebiet höher lag und das Wetter daher rauer war. Der Boden war lehmig, nass und schwer, nicht so leicht wie die schwarze Erde in Dortmund. Einiges Gemüse gedieh trotzdem gut und die Beerensträucher trugen reichlich. Agnes weckte ein wie eine Weltmeisterin. Ihre Eltern konnten sich freuen, dass „ihre Köchin“ wieder da war. Schnittmuster hatte sie schon lange nicht mehr entworfen und auch kaum etwas genäht, das überließ sie ihrer Mutter.

7.7 Agnes geht zurück ins Ruhrgebiet
Die Arbeit als Schuldienerin wurde sehr gering bezahlt. Agnes kündigte. Sie trat eine Stelle im Ruhrgebiet bei einer Witwe als Hausdame an. Das war angenehm. Die Tochter der Witwe war charmant und einige Jahre älter als sie. Die drei Frauen kamen gut miteinander aus. Ab und an kam auch der Sohn der Witwe und seine Besuche häuften sich. Er war Witwer mit Kindern.

7.8 Ehe ohne den Segen des Vaters
Es war etwas im Busch“. Er stellte Agnes einen Heiratsantrag und seine Mutter sowie seine Schwester waren dafür und befeuerten das Ganze. Was sollte sie machen, sie wollte nicht und wurde daraufhin sehr gedrängt und sogar bedrängt. Sie schrieb ihren Eltern, die noch in der Dienstwohnung der Volksschule wohnten: „Ich komme mit meinem lieben Bräutigam.“ Man war gespannt. Sie kam mit einem Mann und dessen zwei bereits schulpflichtigen Töchtern. Ihr Vater, mein Großvater, nahm die beiden Mädchen dann beiseite und erfuhr, dass sie noch weitere vier Geschwister hatten. Dieser „liebe Bräutigam“ hatte also sechs Kinder. Drei Mädchen und drei Jungens. Die Söhne sind aber im Krieg, an der Front, die kehren wohl nicht mehr zurück, mutmaßte deren Vater, der „Bräutigam“, mein späterer Vater. Das war wohl 1940. Es war wieder Krieg, der zweite Weltkrieg.

1941 haben meine Eltern dann in … geheiratet. Meines Opas Kommentare dazu: „Sie hat einen Mann geheiratet, der sah älter aus als ich“ oder: „Sie hat einen alten Mann mit sechs Kindern geheiratet“. Und: „Sie hat mich nicht gefragt“. Die Hochzeit fand offenbar ohne Mutters Eltern, meine Großeltern, und ohne deren Segen statt.
Ihre Eltern verstanden nicht, warum sie den - schon um einige Jahre älteren - Erwin immer wieder abgewiesen hatte, „den guten Jungen“ und nun auf einmal einen 11 Jahre älteren Mann mit sechs Kindern, „ausgesucht“ hatte. Sie betrachteten ihre Tochter als keck und dickköpfig und stur. Sie waren empört, enttäuscht, wunderten sich und verstanden Agnes einfach gar nicht mehr. Vor allem ihr Vater haderte mit dieser Wahl. Ihre Mutter versuchte mit ihr noch vor der Heirat zu reden und wertete das Handeln ihrer Tochter als „Torschlußpanik“. Mit Agnes war über ihre Entscheidung nicht zu reden.

7.9 Ringelstein
Natürlich hätte sich Agnes dem Ganzen gern entzogen, wertete die eingefädelte Verkupplung als ein übles Spiel, eine üble Machenschaft. In dieser Ehe - „Kriegsehe“ - war sie ohne alle Rechte, sie hatte nur Pflichten. Eine Haushälterin hätten die bezahlen müssen und ihr hätte auch freie Zeit zugestanden, als Ehefrau aber arbeitete sie natürlich kostenlos und hatte jedem/jeder zur Verfügung zu stehen.
Ihre Schwiegermutter und Schwägerin waren andererseits gleichbleibend mitfühlend. Agnes gegenüber deuteten die Beiden Verständnis an, wenn es offensichtlich zwischen Agnes, ihrem Ehemann und den Kindern nicht klappte. Seine Mutter erklärte dann wiederholt seufzend: „Armer Josef“. Dass er seine erste Frau verloren hatte, entschuldigte nicht, dass er auch in ihren Augen unfähig war, mit den Kindern oft nicht klar kam, keinen Beruf vernünftig ausübte und allbekannter Trinker war.
Auch seitens einiger Behörden wurde sie gedrängt, genötigt, quasi gezwungen, wegen der minderjährigen Kinder in die Ehe einzuwilligen.
Agnes war verzweifelt. Sie lief weg, kam wieder und lief erneut weg und kam zurück. Ihre Schwiegermutter blieb ihr gegenüber gleichbleibend freundlich.
Die beiden jüngeren Mädchen und der jüngste Sohn, der auf einer Nazi-Kaderschmiede in Großkrotzenburg und ein glühender Nazi-Anhänger bzw. SS-Anwärter war, „machten ihr die Hölle heiß“. Ihr Ehemann und die Drei drohten Agnes, bei jeder Gelegenheit, jedem kleinsten Missgeschick oder einer Äußerung, die ihnen nicht passte, sie anzuzeigen und mit „Ringelstein“, einem Sammellager für „staatsfeindliches Gesindel“. Die Nerven lagen bei Agnes blank. Sie konnte mit niemandem über ihr Unglück und Leid sprechen, schon gar nicht mit ihrem Vater, der wies sie von sich. Sie hatte Angst, manchmal sogar Todesangst.
Nach dem 08. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation, lief Agnes endgültig weg und ließ sich scheiden (Teil I, Kap. 8.).
03.11.2022 p

7.10 Nach Holland - und „u i t!
Acht Jahre waren nach Kriegsende und der endgültigen Trennung meiner Mutter von meinem Vater verflossen und der Scheidungsprozess war auch entschieden, aber frei war Agnes, meine Mutter, keineswegs, sie war eine Gehetzte, eine Getriebene. Die Atmosphäre in Deutschland gefiel ihr nicht. Alles war bedrückend. Gern erinnerte sie sich an ihre Zeit in Holland und sehnte sich dahin zurück. Alte Kontakte ließen sich aber nicht mehr herstellen, sie wusste nichts Genaues und ahnte Schlimmes. Also kam sie auf die Idee, in Holland eine Arbeitsstelle als Hauswirtschafterin oder Köchin offiziell zu suchen und hatte Erfolg. Anfang 1954 wanderte sie aus und trat in Hilversum eine Anstellung als Köchin an.
In ihrer freien Zeit versuchte sie von dort aus, die Familie aus Haarlem zu finden und sie fragte auch nach ein paar Menschen, denen sie 1940 bis etwa 1942 mit Hilfe ihrer „Schnittmuster“ zur Flucht mit verholfen hatte. Sie erhielt keine Auskunft, es gab kein Lebenszeichen, von niemandem.

Diese „Schnüffelleien“ fielen auf und gefielen nicht. Sie wurde vorgeladen und nach etwa einem Dreivierteljahr offiziell ausgewiesen. Nazis wollten die Holländer in ihrem Land nicht haben und Agnes sei „eine Nazi“, denn sie war nachweislich mit einem Nazi verheiratet gewesen. Ob sie nun geschieden war oder nicht, spielte für diese Einschätzung keine Rolle, so ihre Erklärung. Sie war Nazi, Punkt um und musste gehen.

Sie verstand das nicht und hat wiederum offiziell in Deutschland ihre Entnazifizierung formlos, schriftlich, beantragt. Sie erhielt keine Antwort. Auf mündliches Nachfragen hin, stieß sie auf Unverständnis bis hin zum Spott, man hielt sie offenbar für „meschugge“. Es gab in Deutschland ein paar Jahre nach Kriegsende sozusagen eine Art Generalamnestie für Nazis, darunter war auch sie gefallen.
Meine Großeltern kommentierten den Rauswurf mit der Volksweisheit: „Bleib im Land, ernähr´ dich redlich.“ Das tat weh.
06.11.2022 p

 

 

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