GeschichtenB5

 

8. Mein Vater

8.1 „Wo ist mein Vater?“
Andere Kinder haben einen Vater oder Papa, ich nicht! „Wo ist mein Vater?“ „Er ist nicht hier.“ „Wo denn?“ „Frag nicht so viel.“ „Die anderen fragen mich aber, ob ich einen Vater habe und wo er ist und ich weiß das nicht.“ Oma weiß Rat: „Wenn sie dich fragen, dann sag einfach, `mein Vater ist in der Häcksel ersoffen´“. „Was soll das denn jetzt heißen?“ „Du fragst zu viel, frag deine Mutter.“ „Mutter ist aber auch nicht da, wie soll ich sie denn fragen.“ „Deine Mutter muß arbeiten, damit sie was zum Leben hat und auch für dich etwas beisteuern kann. Du bist hier bei uns und dein Opa und ich sorgen für dich.“ „Aber wo ist denn mein Vater?“ … Derartige Frage- und Antwortfolgen erstreckten sich - wie ein roter Faden - durch meine frühere Kindheit.
Es gab auch andere Kinder, deren Vater nicht da war, ich spürte jedoch, da war etwas anders.

Meine Großeltern sorgten so gut sie konnten für mich. Als ich im 1. und 2. Schuljahr war und schon etwas schreiben konnte, musste ich mehrmals im Jahr, manchmal alle paar Monate, an meinen Vater einen Brief schreiben, der im allgemeinen sehr kurz ausfiel und fast immer den gleichen Inhalt hatte, etwa so: „Lieber Vater! Schick mir bitte das Geld, damit Oma und Opa mir ... kaufen können“ (oder so ähnlich). „Herzliche Grüße, Deine Tochter …“ Anfangs wurden mir ähnliche Briefe vorgeschrieben, später diktiert und dann, als ich älter war, musste ich selbständig schreiben, aber mir fiel auch nicht mehr ein, denn ich kannte meinen Vater ja gar nicht, was sollte ich ihm denn da schreiben?

Es waren monatlich 30 DM Kindergeld.

Das Geld blieb trotzdem sehr oft aus. Meine Oma musste dann mit Hilfe der Caritas „alle Hebel in Bewegung setzen“ und u. U. sogar „die Behörden einschalten“. Das wirkte kurze Zeit. Bald jedoch musste ich schon wieder schreiben. Manchmal kam auch ein kleiner Brief als Antwort mit allen möglichen Ausflüchten. Dieser Kampf ums Kindergeld dauerte so lange, bis ich nicht mehr schulpflichtig war. In den letzten Schuljahren war das Kindergeld von 30 DM mein Taschengeld gewesen, von dem ich aber alles für die Schule und auch für Kleidung u. ä. zu bestreiten hatte. Zum Sparen blieb mir kaum etwas übrig. Und Geld für etwas Schönes auszugeben, so wie andere Klassenkameradinnen, war mir nicht möglich.

Als ich klein war, erzählte Mutter mir kaum etwas von meinem Vater. Sie mochte ihn nicht, denn er war hässlich und sie wollte nichts von ihm wissen.
Peu à peu erfuhr ich etwas über meinen Vater. Er war kein guter Mensch. „Er war ein Taugenichts.“ Ich hatte kein gutes Bild von ihm.

8.2 Mein Vater kommt bald
Als ich etwa zwölf Jahre alt war, schrieb mir mein Vater, dass er mich besuchen werde, wann genau, wisse er aber noch nicht. Monate vergingen und ich hatte das schon vergessen.

Eines Tages wurde ich in der großen Pause in das Foyer unserer Schule bestellt und sollte dort auf unsere Schulleiterin warten. In der Nähe des Eingangs stand ein kleiner Mann an der Seite und schwenkte einen „Stabelstock“, den er bei sich trug, vor seinem Körper hin und her. Weil er mich immer so „blöd“ anschaute und ich mich von ihm beobachtet fühlte, schaute ich weg und war heilfroh, als mich meine Klassenschwester mit der Bemerkung - Schwester Direktorin werde mich sicher finden, wenn sie mich sprechen wolle - auf den Schulhof zu meinen Mitschülerinnen schickte.

Vor der zweiten, kleinen Pause wurde ich beurlaubt und zum Jugendamt ins Kreishaus geschickt, dort sollte ich meinen Vater treffen. Jetzt war mir klar, der kleine, hässliche Mann - mit den wenigen hellfuchsigen Haaren auf seinem Kopf und dem stark geröteten Gesicht, mit der bläulich geäderten Nase - der im Foyer unserer Schule stand, war mein Vater. Irgendwie war mir sonderbar zu mute.
Ich wurde von einer Beamtin in Empfang genommen und gefragt, ob ich meinen Vater sehen und sprechen wolle. Ich wollte. Wir wurden sehr förmlich mit einander bekannt gemacht. Die Dame, die ihn begleitete, musste vor der Tür warten. Mein Vater und ich waren alleine in dem Raum und konnten uns da ein wenig unterhalten. Er zeigte mir einige Fotos, die mir nichts sagten und auch nichts bedeuteten. Ich war verkrampft und lehnte ihn innerlich ab. Er wollte mich unbedingt in ein Café einladen, ich wollte aber nach Hause. Ich hatte Misstrauen und Angst oder so etwas vor ihm und am Nachmittag hatte ich ohnehin Pfadfindergruppe und das benutzte ich als einen Vorwand, nicht mit ihm mitzugehen.
Die Pfadfindergruppenstunde war mir wichtig, die hätte ich auch ohne Grund nie versäumt und was hätte ich da auch als Begründung angeben sollen?
Über unsere Familienverhältnisse redete ich äußert ungern und nur, wenn es absolut nicht mehr ging, ließ ich mich zu einer Erklärung hinreißen.

Diese erste bewusste Begegnung mit meinem Vater war also kurz, sie war mir trotzdem nachhaltig in Erinnerung geblieben: Er war und blieb für mich ein fremder, hässlicher, kleiner Mann.
Als ich nach Hause kam, erfuhr ich, dass auch Mutter um eine Einwilligung zu diesem Treffen ersucht worden war und prompt ihr Einverständnis erklärt hatte. Sie hatte sich nicht dagegen gestellt.
Sehr viel später habe ich ihr das hoch angerechnet, denn es muss nicht leicht für sie gewesen sein.
17.11.2022 p

Bald nach dieser Begegnung mit meinem Vater musste ich schon wieder Bettelbriefe an ihn schreiben. Er bekam das Kindergeld für mich, zahlte jedoch äußerst säumig an uns. Mein längeres, inständiges Bitten rührte ihn kaum. Er reagierte fast nur auf behördlichem Druck hin und das wiederum längstens für ein paar Monate.
Ich war sauer! Mein Zorn richtete sich jedoch weniger gegen meinen Vater, nein - denn ich nahm ihn sowieso nicht für voll - als gegen Mutter. Sie war´s doch, die diesen Mann geheiratet hatte.
22.11.2022 p

8.3 Diskussionen über meinen Vater
Als ich mit etwa 13 bis 15 Jahren voll in der Pubertät war, war das Verhältnis zwischen Mutter und mir überaus belastet. Ich machte ihr bitter böse Vorwürfe, warum sie diesen Mann - meinen Vater - überhaupt geheiratet hatte und konnte und wollte nicht verstehen, wenn sie behauptete, zu dieser Ehe gezwungen worden zu sein. „Mich kann keiner zu etwas zwingen, wenn ich nicht will“ und „ich hätte diesen häßlichen Mann nie geheiratet. Unverantwortlich so etwas!“ „Du weißt nicht, wovon Du redest, Blage!“ „Wer A sagt, muss auch B sagen und darf nicht einfach die Flinte ins Korn werfen und dann einfach weg laufen.“ So in etwa verliefen und endeten meistens solche kurzen, aber heftigen Wortgefechte. Mutter war still, sprach kein Wort mehr und das Tage lang nicht mehr. Oft ging sie frühmorgens weg und kam erst gegen Abend zurück, verschwand wortlos ins Zimmer, schloss sich ein und ging ins Bett. Weder meine Großmutter noch ich erfuhren, wo sie tagsüber war. Einige Tage später war sie dann, wie meistens, wieder ganz verschwunden. Und wir wussten nichts.
Es kam aber auch vor, dass sie zwar einige Wochen bei uns blieb, es aber nach solchen verbalen Auseinandersetzungen sehr lange dauern konnte, bis wir wieder vorsichtig mit einander reden konnten. Manchmal, äußerst selten, machte sie sogar den Anfang.
Aus all ihren fragmenthaften Erzählungen ergab sich für mich folgender Zusammenhang: Mutter hasste meinen Vater, das war klar, denn ich war mir bei ihr nicht sicher, wie weit ihre Wut auf ihn bei den bruchstückhaften Beschreibungen, die sie dann und wann förmlich herauskatapultierte, eine Rolle spielte.

8.4 Elisabeth über unseren Vater
Meine Halbschwester Elisabeth schrieb mir, als ich etwa 17 Jahre alt war, einen langen Brief und lud mich zu sich ein. Meine Anschrift hatte sie von unserem Vater erhalten. Elisabeth war wesentlich älter als ich, verheiratet und hatte eine kleine, süße Tochter. Allen, die uns zusammen sahen, war klar, dass wir miteinander verwandt sein müssen, denn es bestand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns Beiden.
Dieses Zusammensein mit ihr war spannend für mich. Sie hatte mich als Kleinkind erlebt und in Erinnerung behalten, ich jedoch sah sie nun bewusst zum ersten Mal. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und ich erfuhr von ihr viel über unseren gemeinsamen Vater. Vieles von dem, was meine Mutter behauptet hatte, bestätigte sich nun zum Teil, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
Meine Halbschwester fand meine Mutter nicht uninteressant, gab sich selbst eine Mitschuld, „die Ehe auseinandergetrieben“ zu haben, belastete aber insbesondere unseren Vater. Sie bestätigte seine Faulheit und Unfähigkeit an verschiedenen Beispielen. Unser Vater übte nacheinander verschiedene Tätigkeiten völlig unzulänglich aus. Im Bergwerk Untertage wollte er nicht arbeiten und Übertage war er unfähig dazu, als Bäcker war es ebenso. Dann nahm er durch Empfehlung eine Stelle als Postbote an. Die Briefe musste Elisabeth oft nach der Schule austragen, da der Vater so stark betrunken und dazu nicht mehr in der Lage war und die Sendungen sonst liegengeblieben wären. Sie fand diese Situation sehr belastend und beschämend. Irgendwann gab er auch diesen Beruf auf und wurde Aufseher in einem Gefangenenlager. Offenbar empfand sie das Verhalten unseres Vaters ebenfalls schrecklich und mochte ihn daher auch nicht so sehr. Die Mutter unseres Vaters, hat meine Halbgeschwister finanziell und moralisch stark unterstützt, denn sie erkannte die Unfähigkeiten ihres Sohnes voll und ganz. Sie war eine gütige Frau, lebte leider aber nicht mehr lange. Ich hatte sie - als auch meine Großmutter - bewusst nie erlebt.
Elisabeth und der jüngste Bruder, der zusammen mit unserem Vater meine Mutter bedroht hatte, standen in engem Kontakt.

8.5 Zu Besuch bei meinem Vater
Als ich 23 Jahre alt war, besuchte ich meinen Vater fast eine Woche lang. Er wohnte mit seiner neuen Frau an der Zonengrenze. Von seinem Wohnzimmerfenster aus konnte man auf den Grenzstreifen schauen.
Mein Vater, mittlerweile ein alter, kranker Mann, zeigte sich mir gegenüber von seiner allerbesten Seite. Er kochte, buk alles Mögliche für mich und war sichtlich stolz, eine solche Tochter, wie mich zu haben. Ich wurde allen „Ortsgrößen“ vorgeführt, es war rührend und peinlich zugleich.
Einige meiner anderen Halbgeschwister lernte ich dort auch kennen, sie waren und blieben mir jedoch fremd. Die äußerliche und innerliche Distanz waren zu groß, allein auf Grund des großen Altersunterschiedes. Sie alle waren mir zu etabliert. Das Treffen entwickelte sich zu einer Art Familien-„Fest“. Mein Vater war in bester Laune und prahlte mit seiner früheren Trunksucht und dass er dann, wenn der katholische Pfarrer ein Mal im Monat zu ihm komme, mit ihm zusammen eine Zigarre rauchen dürfe, denn aus gesundheitlichen Gründen, waren meinem Vater Alkohol- und Nikotinkonsum untersagt. Der Geistliche kam zu ihm, weil er offenbar meinte, mein Vater habe als Witwer wiedergeheiratet und wusste vermutlich nicht, dass er geschieden war und zum dritten Mal geheiratet hatte. In den 60er Jahren sah die katholische Kirche die Wiederheirat Geschiedener nicht so locker, an sich bis heute nicht. Er und zwei seiner Kinder aus erster Ehe lebten in seiner Nähe und alle Drei waren in dem Ort Neubürger. Einer der beiden zeigte sich der katholischen Kirche gegenüber als sehr spendabel. Meiner Meinung nach zahlte sich das für die Drei aus.
Über Agnes, meine Mutter, redeten wir kein einziges Wort. Das Thema wurde beiderseits „geschickt umschifft“.
Mit seiner Angeberei über frühere Saufeskapaden meinte er mich erheitern bzw. beeindrucken zu können oder müssen: So erzählte er in fröhlicher Runde eine seiner Tollheiten nach der anderen. Alles grölte! Einer dieser Schwänke hier: Es war im Spätherbst und bereits dunkel. Er wurde vermisst, überall gesucht und nicht gefunden. Sie hatten es schon aufgeben wollen. Irgendeiner zog doch noch einmal los, suchte und suchte, vergeblich, bis er aus einer Ecke hinter einem Neubau etwas Seltsames hörte, ein Schnarchen oder so etwas. Der Betreffende ging dem nach und entdeckte meinen sturzbetrunkenen Vater halb im Betonrest in einem Speistiegel liegend. - Alles grölte wieder los; ich aber hatte genug von diesen Erzählungen.
Die Woche war schnell um und ich sehnte mich dorthin nicht wieder zurück.
22.11.2022, ergänzt am 25.11.2022 p

8.6 „Erbschleicherin“
Am Tag vor meiner Heimreise überreichte mir mein Vater ziemlich pathetisch 800 DM als Beitrag zur Finanzierung meines bevorstehenden Studiums. So viel Geld auf einmal hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn in der Hand gehabt. Das hatte ich von ihm nicht erwartet, ich war glücklich und bedankte mich sehr dafür. Trotzdem war ich froh, wieder nach Hause fahren zu können, denn wohlgefühlt hatte ich mich dort nicht, es war für mich wie eine andere Welt.
Zu Hause angekommen, trug ich dieses Geld gleich zur Sparkasse und ließ es meinem Sparbuchkonto gutschreiben. Mutters Kommentar: „Das ist nur ein Bruchteil dessen, was er Dir schuldet“. Sie hatte recht, das waren Teile des Kindergeldes, das er mir zuvor über die vielen Jahre hinweg vorenthalten hatte. Na ja, ich freute mich trotzdem, war dankbar und glaubte, das Geld für Notzeiten gut angelegt zu haben. Ab und an berichtete ich ihm in Briefen von meinen Fortschritten in meinem Studium.

Ein paar Jahre später starb mein Vater und ich erfuhr von seinem Tod erst einige Tage nach seiner Beerdigung. Mein „gut katholischer“ Halbbruder schrieb mir einen bitter bösen Brief und bezichtigte mich als „Erbschleicherin“. Den Brief zerriss ich - ritsch ratsch - und er landete im Müll. Eine Antwort oder gar Rechtfertigung ersparte ich mir und ihm.
Der Kontakt zu der väterlichen Familienseite war damit endgültig abgerissen. - Ich bedauere es nicht.

Kurz vor unseres Vaters Tod verebbte auch der Kontakt zu meiner Halbschwester Elisabeth. Meiner Einladung, zu mir nach Köln zu kommen - ich hatte für sie und ihre Familie für ein paar Tage auf meine Kosten im Studentenwohnheim ein Zimmer bestellt - sagte sie zunächst zu, dann aber kurz vorher ab, denn sie fuhr plötzlich für einige Wochen mit ihrer Familie nach Italien.
Dann kam der Hammer: Wie so oft schilderte ich Elisabeth wieder einmal in einem Brief Einiges aus meinem Studentenalltag. Ich erwähnte auch, dass ich häufig an Wochenenden zu meiner Oma fahre, um sie zu versorgen und mir daher kaum noch Zeit, neben dem Studium, zum Jobben bleibe. Offensichtlich hatte sie meine Schilderung als einen Bettelbrief aufgefasst und mir in ihrem Antwortschreiben unaufgefordert detailliert erklärt, kein Geld für mich übrig zu haben, da sie und ihr Mann gerade ein Haus bauen würden und das wäre sehr teuer.
Das reichte mir; weitere Briefe gab es nicht mehr.
08.12.2022 p

 

 

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