GeschichtenB6

 

9. „Fründe, Fründe, Fründe en d´r Nut“

9.1 „Vom Balkon de Aussicht ob d´r Dom“
Von Köln aus fuhr ich sehr oft mit dem Zug zu meiner Großmutter, um alles für sie vorzubereiten, damit sie ihren Alltag, für bis zu zwei Wochen, ohne fremde Hilfe überstehen konnte. Das war anstrengend und ich hatte kaum Zeit, um mit meinen Kommilitoninnen etwas Schönes zu unternehmen.
In den Semesterferien kamen einige von ihnen mich besuchen und lernten meine Großmutter kennen. Sie waren von ihr sehr angetan. Wenig später planten sie für mich und mit mir zusammen, meine Oma nach Köln zu holen und sie würden sie alle, gemeinsam mit mir, versorgen. Es wurde organisiert, zum Teil auch ohne mich, „alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt“ und eine wunderschöne, bezahlbare Zweizimmerwohnung im Domviertel, mit Balkönchen und Blick auf die mächtigen Türme des Doms, war für meine Oma und mich gefunden. Meine Oma war - so wie wir alle - begeistert und in drei Monaten sollte sie umziehen, als Eisenbahnerwitwe mit der Bahn, organisiert über Wuppertal-Elberfeld. Wir hatten alles hingekriegt. Ich fuhr ein paar Tage vor dem Umzugstermin zu ihr, um zu packen. Da ging es los, das Lamentieren. Die ganze, anfängliche Begeisterung war wie weggeblasen, sie war direkt ins Gegenteil umgeschlagen. „Nein, nein, …, bloß nicht nach Köln, das ist eine schmutzige, hässliche Industriestadt und das Klima ist dort sehr schlecht“ und … „für alte Menschen“, so wie sie, „ganz besonders schlecht und die Ärztin hat das auch gesagt.“ - Ja, und nun, was machst du jetzt? Alle Überredungskünste waren vergeblich. Ich konnte nun - drei Tage vor dem Umzug - alles absagen. Die Bahnleute „brummten“, die Wohnung war Gottseidank ruck zuck weitervermietet, Kosten entstanden uns keine, aber einig verstanden das einfach überhaupt nicht. Das war zwar schlimm für mich; ich konnte Oma aber nicht böse sein, da ich ihre Bedenken und Ängste nachzuempfinden versuchte: „Einen alten Baum versetzt man nicht.
Ich studierte, jobbte und fuhr also mit der Bahn die rund 130 km weiterhin in einem gewissen zeitlichen Rhythmus zu meiner Großmutter, um sie zu versorgen. Zeit hatte ich ansonsten kaum, für nichts und niemandem.

9.2 Die Waschmaschine
Kam ich wieder zu meiner Oma nach Hause, hatte ich, neben vielen Erledigungen für ihren Haushalt, eine Menge Wäsche zu waschen. Meistens wusch ich in den Ferien; bis dahin hatte sich auch viel angesammelt und es war daher dringend notwendig geworden.
Hildegards Mutter, die auch wie eine Mutter zu mir war und mir oft mit Rat und Tat zur Seite stand, half mir, auch in derartiger Situation, denn sie hatte eine elektrische Waschmaschine. Manchmal durfte ich die schmutzige, vorsortierte Wäsche zu ihr bringen und konnte die frisch gewaschene Wäsche dann einige Stunden später wieder bei ihr abholen. Zwei mit nasser Wäsche vollgeladene Eimer trug ich dann nach Hause. Das war eine große Erleichterung für mich. Der Weg zu uns dauerte etwa 10 min zu Fuß. Dann konnte ich die Wäsche zum Trocknen an Wäscheleinen aufhängen, bei schlechtem Wetter auf dem Dachboden und bei gutem draußen.
Irgendwann überlegten meine Großmutter und ich, dass wir uns auch eine solche Waschmaschine leisten und in der Küche aufstellen lassen könnten, das würde doch möglich sein. Gesagt, getan, eine Maschine war im Fachgeschäft vorrätig und wurde sogleich geliefert. Zwei Monteure stellten die schwere Waschmaschine in der Küche neben dem Waschbecken auf, schlossen sie am Wasser- und Abwasser an, ich lud schmutzige Kochwäsche ein und startete die Maschine. Die Männer nahmen mich mit ihrem Auto mit in die Stadt, damit ich die 999 DM vom Sparbuch holte, um die Maschine sofort zu bezahlen, so war es mit meiner Oma vereinbart.
Als ich wieder zu Hause ankam, war die Maschine fertig und ich konnte die saubere Wäsche sofort zum Trocknen aufhängen.

Aber was war mit meiner Oma? Sie beachtete mich nicht mehr; sie würdigte mich keines Blickes; sie sprach nicht mehr mit mir. Egal was ich machte oder fragte, keine Reaktion von ihr. Ich verstand ihr Verhalten nicht. Waren ihr etwa die knapp 1000 DM zu Kopfe gestiegen? Es war schon viel Geld für uns, aber wir wollten doch eine gute Marken-Maschine kaufen, so hatten wir das vorher überlegt und abgemacht. Tagelang ging das so, meine Oma sprach einfach nicht mehr mit mir. Wie gewohnt verrichtete ich meine Hausarbeit und ließ sie in Ruhe „maulen“.

Ha, heute ist schönes Wetter; ich wasche wieder etwas, dann kann ich die Sachen nach draußen hängen und sie sind schnell trocken.“ Gesagt, getan! Meine Oma saß auf der Chaiselongue gegenüber der Waschmaschine und beobachtete mich und die Maschine wortlos.
Nach einer gewissen Zeit setzten die Spül- und Schleudervorgänge ein. Plötzlich schrie Oma aufgeregt, fast panisch: „Da, da, jetzt ist das wieder! Da, da, guck doch, die Maschine springt ja wild herum, die fliegt gleich auseinander, die geht kaputt“. „Nein, da passiert nichts, die schleudert, spült und schleudert nur und das wiederholt sie einige Male, dann ist die Wäsche fertig und dann hänge ich sie gleich draußen an den Leinen auf. Das geht viel, viel schneller als früher und du brauchst nicht mehr so schwer zu schuften wie früher. - Auch du kannst kleinere Teile waschen, alleine, wenn ich nicht da bin und dann hängst du die Wäsche an den Klappständer, den ich dir mal mitgebracht hatte. Um große Wäscheteile brauchst du dich nicht zu kümmern, die Tisch- und Bettwäsche wasche ich dann, wenn ich wieder da bin.
Zitternd, ungläubig mit dem Kopf schüttelnd saß sie da und guckte mich mit weit geöffneten Augen zweifelnd an. Als sie sich ganz allmählich wieder beruhigt hatte, erzählte sie mir stockend und vorwurfsvoll, was geschehen war, als ich mit den Monteuren in die Stadt gefahren war, um die Waschmaschine zu bezahlen. Die Maschine wusch, es roch nach Lauge, sie konnte durch das Bullauge sehen, wie die Wäsche in der Maschine bewegt wurde, einmal drehte sie sich so, einmal anders herum und das im Wechsel und „dann, dann das Gerumpele, Gedröhne, Gepolter dieser Maschine und da drinnen drehte sich die Wäsche furchtbar schnell und ich glaubte, gleich fliegt alles auseinander.“ Sie wollte hinausrennen und das ging nicht, da ich von außen - versehendlich mit ihrem Schlüssel - die Tür zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen hatte. Sie konnte die Tür also von innen nicht öffnen und war in Panik geraten, sie verspürte offenbar eine Art Todesangst. Sie hatte aus dem Fenster gerufen, jedoch war keiner da, der sie hören konnte und aus dem Fenster zu springen, hatte sie sich dann doch nicht getraut. - Zum Glück nicht!!

Ein paar Mal wusch ich noch und meine Oma schaute zu, lernte das Waschprogamm kennen und mit großen Buchstaben schrieb ich ihr die Einstellungen je nach Wäscheart auf, so dass sie alles alleine machen konnte, wenn sie wollte und sich dazu in der Lage sah, denn sie wurde bald 89 Jahre alt.
Mutter tauchte unerwartet wieder auf und ich konnte einigermaßen beruhigt nach Köln fahren, pünktlich zu Semesterbeginn.

9.3 Meine Großmutter liegt im Sterben
Nachbarinnen hatten die Leitung des Studentenwohnheims, in dem ich lebte, telefonisch alarmiert und gefordert, mich sofort nach Hause zu schicken, da keiner von ihnen mehr Verantwortung für meine Großmutter übernehmen könne und wolle. Mutter war seit Wochen wieder weg und hatte meine Oma einfach allein gelassen und sich auf die Nachbarschaft verlassen.
Still vor mich hin weinend, packte ich sofort meinen Koffer. Marisol, eine Spanierin und meine Zimmerkollegin, packte ebenfalls ein Köfferchen. „Fährst Du auch weg, Marisol?“ fragte ich sie schluchzend. „Ja, ich komme mit Dir mit, denn ich bin außerdem noch examinierte Krankenschwester und dass ich Dir helfe, ist mit der Heimleitung so besprochen.“ Ich konnte nichts mehr erwidern und bald schon saßen wir in einem D-Zug und fuhren Richtung Osten. Beide schauten wir aus dem Zugfenster hinaus und redeten kaum miteinander. Was hätten wir auch sagen sollen?
Bei uns zu Hause angekommen, hatten Marisol und ich zu tun. Es sah furchtbar aus: ein großes Durcheinander von schmutziger Wäsche, Geschirr, das Bett verschmutzt und kaum etwas zum Essen vorhanden. Auf dem Küchentisch lag ein roter Zettel, auf dem stand u. a. groß und dick das Wort „Lebensgefahr“, ausgestellt von einem Vertretungsarzt. Meine Oma hatte sich strikt geweigert, in ein Krankenhaus zu gehen und nun lag sie völlig apathisch in ihrem Bett. Marisol erkannte die Situation sogleich. Wir beide arbeiteten schnell und effizient, hauptsächlich nach ihren Anweisungen. Im gegenüberliegenden kleinen Laden wurden Lebensmittel gekauft und aus der öffentlichen Telefonzelle der Hausarzt angerufen. Marisol kochte zunächst eine kräftigende Suppe und wir aßen alle von diesem tollen Gemüseeintopf, auch meine Oma ein Kleinwenig. Dann wurde ihr Bett frisch bezogen und siehe da, meine Oma äußerte den Wunsch, bei uns in der Küche sein zu wollen. Also wurde sie auf der alten Chaiselongue schön, bequem und frisch gebettet. Sie war sehr, sehr schwach und schlief ein. Der Arzt kam, stellte akute Herzschwäche fest und wusste keinen anderen Rat, als, dass wir einen starken Kaffee aufbrühen und ihn ihr nach und nach teelöffelweise verabreichen. Das wurde gemacht und siehe da, Omas Lebensgeister kehrten allmählich zu ihr zurück und nicht zuletzt auch durch das gute, kräftigende Essen. Meine Oma wurde munterer und interessierte sich sehr für Marisol und besonders ihr Musikstudium an der Orgel. Ich war nur noch Nebensache; die Beiden verstanden sich blendend.
Meiner Großmutter ging es langsam immer besser. Marisol und ich putzten, wuschen und taten alles Notwendige, so schnell wie wir konnten. Der Arzt war begeistert und betonte, so etwas noch nicht erlebt zu haben.
Nun hieß es Abschied zu nehmen. Marisol musste wieder zurück nach Köln reisen, denn sie hatte sich auf ein Konzert vorzubereiten. Oma war begeistert von der jungen Dame. Marisol war älter und auch entschieden fähiger als ich. Ich blieb, denn in dieser Situation konnte ich meine Großmutter nie mehr alleine lassen. Jetzt war mein Organisationstalent gefragt. Zunächst musste ich mich beim Dekan der Hochschule schriftlich abmelden und da ich mitten im Examen stand, benötigte ich Referenzen. Auf Dauer konnte ich also nicht bleiben und so brauchte ich für meine Oma ein Zimmer im Altersheim. Sie kam auf eine „Warteliste“. Monate vergingen, doch plötzlich ging alles unerwartet schnell. Ein Zimmer war frei geworden und meine Oma musste sofort einziehen. Erst wollte sie gar nicht, sträubte sich sehr; dann jedoch, nach ein paar Tagen in dem Heim, war sie begeistert und erklärte mir, es sei so schön, gefalle ihr und sie wolle bleiben. Ein Stein fiel mir vom Herzen, denn so schnell wie damals hätte ich in Köln keine Wohnung mehr für uns beide gefunden.
Nach der Haushaltsauflösung, mit Hilfe von guten Leuten aus dem Ort, fuhr ich zurück nach Köln, um mein Studium fortzusetzen. Es wurde sehr hart für mich, in jeder Hinsicht. Das Examen war nun voll im Gange und viele Termine waren für mich verschoben worden und dann wurde ich auch noch ziemlich krank. Ich hatte Angst, das alles nicht mehr schaffen zu können.
02.01.2023 p

9.4 Keinen Pfennig mehr
Es war klar, meine Großmutter war versorgt, es ging ihr in der Einrichtung sehr gut. Ich konnte mich jetzt gezielt auf mein Examen vorbereiten und das war auch dringend nötig. Die Jahre vorher hatte ich nicht so kontinuierlich für mein Studium gearbeitet, wie es normalerweise hätte sein sollen. Je mehr ich nun lernte und erarbeitete, desto größere Wissenslücken taten sich mir auf, begleitet von ein paar Pannen. So zum Beispiel hatte sich durch eine unglückliche Bewegung ein Tuschfläschchen über meine vorher mühsam bearbeitete Landkarte für meine Examensarbeit ergossen und nicht nur mein Dokumentationsobjekt, sondern auch meine Kleidungsstücke und Schuhe waren dadurch zerstört. Es war zum Verzweifeln.
Aufgrund des hohen Zeitverlustes konnte ich weder meine Oma besuchen, noch neben dem Studium jobben - ich kannte nichts anderes als büffeln und schreiben.
Über Weihnachten war ich die einzige Anwesende auf der Etage des Studentenwohnheims. Als ich meine Zimmertür öffnete, um kurz hinaus zu gehen, fand ich einen Briefumschlag vor mit vielen guten Wünschen und 50 DM. Das war überraschend viel Geld für mich, davon konnte ich schon einige Zeit leben. Von wem dieser Umschlag war, habe ich nie erfahren, er muss jedoch von jemandem gewesen sein, der mich und meine Situation gut kannte.

Wenige Monate später war inzwischen das ganze Geld aufgebraucht, auch die „Eiserne Reserve“ und kein neues kam nach. … ich hatte keinen Pfennig mehr.
Rein zufällig begegnete mir Ger, die Schwester meiner Freundin Hildegard, die ebenfalls in Köln studierte und meine akute Geldnot kam auch zur Sprache, denn eigentlich wollte ich mein Studium aufgeben und mich um einen Job bemühen. Spontan fragte sie mich: „Wie viel brauchst du? - Sag wie viel du brauchst!“ Wir schlossen keinen Vertrag ab, machten auch sonst nichts schriftlich. Ger überwies mir 3000 DM, einfach so als eine freundschaftliche Hilfeleistung. „Du gibst mir das Geld zurück, wenn du es kannst und wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm.“ Ich vermochte nichts mehr zu sagen. - Das vergesse ich nie!
07.01.2023 p

9.5 Ein unerwarteter Bürge
Vorher hatte ich schon einiges versucht, um an Geld zu kommen, unter anderem hatte ich auch ein staatliches, zinsloses Darlehen beantragt. Als ich die dafür ausgefüllten Formulare eingereicht hatte, bekam ich binnen kurzem ablehnenden Bescheid. Enttäuscht erkundigte ich mich nach dem Grund. Die Antwort war ganz einfach; ich hatte keinen Bürgen angeben können.
Völlig mutlos besuchte ich trotzallem noch einige Vorlesungen und Seminare. Auf meine Umgebung muss ich ein Bild des Elends abgegeben haben. Nach relativ kurzer Zeit wurde ich zum AStA bestellt. Ich traute meinen Ohren nicht, ich hatte einen Bürgen. Er wollte mir gegenüber jedoch nicht genannt werden; ich sollte unbeschwert mein Studium fortsetzen und meine Prüfungen absolvieren. Das Darlehen war bewilligt und die erste Zahlung erfolgte binnen weniger Tage. Ich konnte es kaum glauben und war überglücklich, aber schon auch neugierig, wer der Bürge war. Ich studierte fleißig weiter, war wieder präsent und es lief nicht schlecht für mich. Anstrengend war es schon, aber ich schaffte es mit Ach und Krach und das mit einem knappen „gut“. Nun erfuhr ich auch, dass mein Geographieprofessor mein Bürge war, weil er sah, dass ich ideal für das Fach war. Die Geographie und ich waren sozusagen eins. Die bescheidene „2“ als Examensergebnis hatte ich mir durch die übrigen Fächer, in denen ich nicht so gut war, eingehandelt. Die „2“ war eine Durchschnittsnote und die reichte mir auch, denn ehrgeizig war ich nie.
Auch weitere Professoren und ein paar Kommilitonen waren mir gewogen, das war letztendlich nicht mehr zu übersehen.
18.01.2023 p

9.6 Meiner Großmutter geht es prima
Im Altenheim fühlte sich meine Großmutter pudel wohl. Es war gemütlich in ihrem Zimmer, denn sie durfte einen Teil ihrer eigenen Möbel mitbringen, ihr Bett, ihren Kleiderschrank, den runden Tisch mit Stühlen und ihren bequemen Sessel. Das erleichterte ihr die Eingewöhnungsphase, da sie ihre vertrauten Dinge vorfand. Alles war gut, mit Allem war sie zufrieden. Sie war nicht nur die Älteste, sondern auch nach kurzer Zeit der „Star“ des Hauses. Wegen ihrer Bescheidenheit und zurückhaltenden Art wurde sie geschätzt. Gerne und unaufgefordert schaute das Pflegepersonal bei ihr vorbei. Manche von ihnen setzen sich sogar mit einem Pott Kaffee zu ihr, um ein wenig mit ihr zu plauschen und sich - während ihrer anstrengenden Tätigkeit - etwas zu verschnaufen. Oma versicherte mir gegenüber, niemals etwas vom Personal zu verlangen und sie betonte, niemals den Klingelknopf betätigen zu wollen. Das kommentierte ich nicht.

Sie schwärmte in ihren Erzählungen gern von dem, was sie früher selber gekocht hatte und alle gerne aßen, so auch dem Personal gegenüber, beispielsweise von eingelegten Heringen mit Pellkartoffeln oder von Königsberger Klopsen. Nicht selten hatten ein paar Tage später alle Heimbewohner das Vergnügen, Heringe mit Pellkartoffeln oder Königsberger Klopse essen zu dürfen. Es war schon putzig!

Weil sie jetzt näher zum Stadtzentrum hin wohnte, bekam sie auch häufiger Besuch. Einige kamen einfach mal so bei ihr vorbei, mehr und häufiger, als früher und fast jeder brachte ihr eine Kleinigkeit mit oder erfüllte ihr einen ihrer wenigen Wünsche. Manche kochten ihr auch etwas und brachten es ihr zum Kosten mit. Sie war beliebt und ich wusste sie in guten Händen und so konnte ich mich ein wenig „zurücklehnen“, trotzdem fuhr ich nach meinem Examen wieder häufig zu ihr, nach etwa zwei Jahren mit meinem eigenen Auto, einem orangefarbenen Käfer. Meine Oma war erstaunt und sichtlich stolz. Vorsichtig erkundigte sie sich nach dem Preis. Da habe ich sie direkt belogen, denn ich hätte ihr niemals erklären können, dass ich bei einer Bank einen Kredit aufnehmen musste, um dieses Auto zu bezahlen, denn das hätte ich ja nie anders bewerkstelligen können. Das Thema war damit zum Glück erledigt.
Schulden machen, das ging gar nicht, so war unsere Einstellung und so war auch ich erzogen.

Wenn ich kam, machte ich auch kleine Spritztouren mit ihr zur Himbeerheide, zu einer Kapelle mitten im Wald, zum früheren Garten und …
Eines Nachmittags fuhren wir in das Dorf, in dem sie vor fast vierzig Jahren als Schuldienerin tätig war und zu einer damaligen Bekannten dort. Wir standen vor ihrem Bauernhof, als sie meine Oma erkannte, gab´s ein großes Hallo. Alle kamen herbeigelaufen, Oma wurde aus dem Auto gehoben und ins Wohnzimmer getragen. Das war ein Wiedersehn. Eilig wurde der Kaffeetisch gedeckt. Es gab alles: Kaffee, Kuchen, belegte Brote und allerlei kleine Köstlichkeiten zum Probieren. Mittlerweile war es Abend geworden, es hieß Abschied nehmen und Oma und ich fuhren fröhlich zurück ins Heim.
Da bekam ich aber etwas zu hören: Wir waren spät, viel zu spät ohne uns abgemeldet zu haben. Alles war in Sorge, in großer Sorge, die Heimleitung wollte gerade eine Suchaktion starten. - U n v e r a n t w o r t l i c h !
Ich ließ alles über mich ergehen, denn in gewisser Weise hatte sie ja recht. Ich hätte mit der Heimleitung telefonieren müssen, das war damals - Anfang der 70er Jahre, auf dem Lande - aber gar nicht so einfach. Ein Telefon hatte nicht jeder, und auf den Dörfern waren Telefonzellen auch noch selten. Die Familie, bei der wir spontan waren, hatte zwar schon lange ein Telefon, aber wer von uns allen hat in einem solch fröhlichen, überraschenden Moment daran gedacht, zu telefonieren - N i e m a n d !

Ich fuhr wieder nach Köln zurück und meine Oma war krank geworden, ziemlich krank, über 14 Tage lang krank und wurde liebevoll gepflegt. Als ich sie wieder besuchte, war sie genesen, Spritztouren waren aber nicht mehr drin. Sie konnte es nicht mehr, es wäre für sie zu anstrengend geworden, denn sie war bereits zu schwach. Unser Kurzbesuch war ein Vergnügen zu einem hohen Preis, meine Oma fand das aber herrlich und erinnerte sich gern bis zuletzt an dieses überraschende, wunderschöne Erlebnis, den Überraschungsbesuch, der auch die letzte Begegnung mit diesen lieben Menschen war.
31.01.2023 p

 

 

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