GeschichtenB7

 

10. Die Zeit, die uns noch blieb

10.1 Schöne Stunden mit meiner Großmutter
Wenn ich alle paar Wochen freitags am frühen Nachmittag zu meiner Oma fuhr, hatte ich einiges im Gepäck. Sobald ich meinen orangenen Käfer auf dem Parkplatz vor dem Altenheim abstellte, entdeckte ich meine Oma winkend am Fenster. Sie hatte - wie immer - schon auf mich gewartet, das war nicht zu verkennen, Ihre Freude war groß.
Nichtsdestotrotz bekam ich aber erst einmal eine Standpauke gehalten. Es ging um Gott, die Muttergottes, alle möglichen Heiligen und Tagesheiligen und dann um die Welt, die ungläubige, verruchte Welt, mit all ihren Gefahren für Leib und Seele und sie befürchtete ernsthaft, dass gerade auch ich Schaden nehmen könnte und diese Gefahr sah sie ausdrücklich für mich, denn sie erkannte und benannte meinen kritischen „Glauben“ als Unglauben und das beunruhigte sie zu tiefst. Und ich wollte und konnte ihr auch nichts vorspielen.
Nach gewisser Zeit bemerkte ich dann, mehr oder weniger genervt: „Oma, können wir uns jetzt normal unterhalten?“ „Ja aber das ist doch normal, wir sprechen doch normal mit einander“, entgegnete sie verwundert, fast verständnislos; ich war halt der „Heidemuck“ in ihren Augen.
Das war jedes Mal am Anfang meiner Besuche so, fast schon wie ein festes Ritual, denn sie war ein tief gläubiger Mensch, sie war sehr katholisch.

Sie sah kaum noch etwas und konnte daher nicht mehr lesen und sie hörte inzwischen äußerst schlecht, das erschwerte die Kommunikation mit ihr und sie konnte sich daher nicht mehr so wie früher informieren. Radio und Schwarzweißfernsehen waren für sie also auch nichts. Das Tagesgeschehen ging an ihr vorbei.
Als ich eines Tages wieder zu ihr kam, war sie sichtlich aufgeregt. Es ging um den Mond. Die Amerikaner waren auf dem Mond gelandet und auch sie hatte das erfahren und konnte das nicht begreifen. Das war für sie ein Sakrileg, eine Gotteslästerung: „Jetzt greifen sie nach dem Mond, die Menschheit ist wohl völlig aus den Fugen geraten.“ Ich hatte große Mühe, sie zu beruhigen und musste mit meiner Wortwahl sehr vorsichtig sein, um sie nicht noch weiter aufzubringen. Wir saßen dicht beieinander, hielten uns an den Händen und sangen leise: „Guter Mond, du gehst so stille …, Der Mond ist aufgegangen … und „Steh´n zwei Stern´ am hohen Himmel, leuchten heller als der Mond …“. Wir sangen alle Strophen und noch weitere Lieder, so kehrte allmählich Ruhe ein.
Das liebe ,gute, alte Mondje, jetzt greifen die Menschen nach ihm. - Nei!

Wir beide hatten nun viel Zeit zum Reden, denn ich brauchte hier nichts zu arbeiten, außer, dass ich manchmal etwas für meine berufliche Tätigkeit nach- bzw. vorzubereiten hatte und sie mein Tun interessiert verfolgte und sich auch erklären ließ. Trotz ihres hohen Alters war sie an allem sehr interessiert. Wir unterhielten uns über Freunde und Bekannte und über vieles andere und lachten oft herzlich.

Da sie altersbedingt auch nicht mehr alles essen konnte, brachte ich ihr weiche Früchte mit. Einmal waren es Kiwis. Sie aß eine und war begeistert: „Hmmm, die ist herrlich, feinsäuerlich und so schön weich. Bring das nächste Mal, wenn du kommst, ein Pfund davon mit.“ Offenbar hatte ich ein verblüfft dummes Gesicht gezogen, denn die kosteten um 1970 zwei bis drei DM pro Stück, das war nicht billig und sie waren auch noch nicht überall erhältlich, nur in den ganz großen Kaufhäusern in Köln, denn sie wurden damals nur aus Neuseeland importiert. Und Oma hatte meine Reaktion bemerkt und richtig gedeutet. Aber auch das nächste Mal brachte ich ihr Kiwis mit, jedoch kein Pfund auf einmal. Eine andere sehr schöne, weiche, teure Frucht war die Avocado, sie kam aus Israel. Meine Oma war begeistert, denn sie war Neuem gegenüber nicht abgeneigt und immer schon eine Feinschmeckerin gewesen.
Die Stunden mit ihr waren richtig schön.

An diesen Wochenenden übernachtete ich bei Bekannten in der Stadt, meistens bei Hildegards Eltern. Ihre Mutter war auch zu mir wie eine gute Mutter. Ich konnte mit ihr Vieles besprechen und fühlte mich von ihr verstanden. Sie besuchte auch innerhalb der Woche, wenn sie Zeit hatte, meine Großmutter, und die freute sich über diese Besuche sehr; so schloss sich der Kreis.

10.2 Kindespflicht - Sorgepflicht
Da meine Oma wusste, dass ich Hildegards Mutter im Gegensatz zu meiner Mutter sehr schätzte und mich von ihr verstanden und angenommen fühlte, ermahnte sie mich öfters, meine Mutter nicht im Stich zu lassen oder gar zu verstoßen. Es war nicht zu verkennen, dass ich Mutter nicht mochte und mit ihr nichts anzufangen wusste, mich oft sogar ihrer schämte. Und daher nahm mir meine Oma das Versprechen ab, mich immer um meine Mutter zu kümmern und für sie zu sorgen, so gut ich konnte.

Ich versprach meiner Großmutter, es zu versuchen. Kurze Zeit darauf kam Mutter überraschend mit Sack und Pack zu mir in meine Wohnung gezogen. Es ging mit uns Beiden einige Wochen gut, dann jedoch wurde dieses Zusammenleben für mich zu einer großen Belastung, schon fast zu einer Katastrophe. Ich konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen, und zu meinem Glück, zog sie von sich aus, aus meiner Wohnung aus. Diese vermeintliche Lösung war jedoch ein Trugschluss. Befreundete Kolleginnen wichen von mir ab. Und Mutter tauchte immer mal wieder an meinem Arbeitsplatz auf, mit Erwartungen und bitteren Vorwürfen. Ich gab ihr Geld und hatte dann für einige Zeit Ruhe. Sie wollte aber wieder zu mir in meine Wohnung ziehen, was ich strikt ablehnte. Dieser Dissens war ohne Lösung. Ich besuchte sie auch nicht in ihrer neuen Unterkunft, nach Jahren wieder in Düsseldorf. Sie konnte mich mit Nichts zu sich locken, auch nicht ein einziges Mal, sie zu besuchen.
Da Mutter nur eine äußerst geringe Rente von 100 DM monatlich erhielt, gab ich ihr dann und wann größere Geldsummen, das war´s.

Meine Oma erfuhr das alles irgendwoher und war totunglücklich.
19.02.2023 p

Bei meinen späteren Besuchen konnte ich meiner Großmutter das kaum erklären. Ich wollte mich auch nicht herausreden, sie kannte Mutter ja besser als ich. Es blieb der stille Vorwurf und die Forderung: „Du sollst Vater und Mutter ehren …“. Diese Dissonanz, was Mutter betraf, blieb bis zum Schluss zwischen meiner Oma und mir bestehen und trübte unser an und für sich harmonisches Zusammensein.

10.3 Mein letzter Besuch
Es war Weihnachten und ich hatte eine fiebrige Erkältung. In dem Zustand konnte ich nicht zu meiner Großmutter fahren. Zum einen war ich zu geschwächt, zum anderen hätte ich Oma evtl. anstecken können und das konnte ich nicht verantworten. Ich rief die Heimleitung an und bat meiner Großmutter auszurichten, dass ich, sobald ich wieder gesund bin, kommen werde.
Anfang Januar 1973 fuhr ich mit meinen Weihnachtsgeschenken im Gepäck morgens los und kam mittags in der Kleinstadt an. Da ich einen gewaltigen Hunger hatte, aß ich schnell in einem bekannten Restaurant zu Mittag und fuhr anschließend zu meiner Oma ins Altersheim.
Eilig wollte ich nach oben stürmen, wurde aber von der Leiterin des Hauses daran gehindert. Ich sollte warten! Sie verschwand wortlos. Was ist los? Keiner ist zu sehen. Ich stehe alleingelassen im Foyer herum. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Nach einer Weile kommt der Hausarzt auf mich zu und mit sehr ernster, fast trauriger Mine erklärt er mir:. „… Deine Oma ist tot. Wenn Du sie noch einmal sehen möchtest, kannst Du jetzt hoch zu ihr ins Zimmer gehen.“ Ich ging mechanisch; jeder Schritt die Treppe hoch fiel mir schwer. Ich betrat das Zimmer. Meine Oma lag in ihrem Bett und schlief, sie schlief nur. Die Augenlider bewegen sich doch leicht, oder? Sie ist doch nicht tot oder doch? Es kann doch nicht sein, sie schläft doch nur. Atmet sie nicht noch?
Ich stand da, wie gelähmt und schaute sie nur an. Ihr schmales Gesicht war sehr eingefallen und die Haut wächsern.
Ich werde abgeholt und zum Kaffeetrinken in den Speisesaal eingeladen. Die Reglung der Formalitäten übernimmt das Haus. Der Sarg ist bestellt und um alles andere brauche ich mich nicht mehr zu kümmern. Ich unterschreibe noch, dass die Möbel und brauchbare Kleidung sowie Wäsche an das Altersheim übergehen und ich keine Ansprüche erheben werde. Auch der Beerdigungstermin wird mir schon bekannt gegeben. - Ich habe hier nichts mehr zu tun.
Wäre ich doch schon morgens da gewesen und hätte ihr - wie früher schon einmal - Kaffee löffelchenweise eingeflößt, könnte sie vielleicht noch leben.
Mit meinen Geschenken verlasse ich das Heim und fahre zu Hildegards Mutter. Keiner ist zu Hause. Es ist bereits dunkel. Ich muss zurück nach Köln fahren. Als ich die Stadt verlassen hatte, waren die Straßen spiegelglatt, Glatteis, etwa die ganzen 60 km weit Glatteis! Ich fuhr im Schritttempo, denn auch vor lauter weinen, sah ich kaum etwas. Manche Autofahrer überholten mich wild hupend und zeigten mir den Vogel. Egal. Ich fuhr und fuhr, erst auf der Autobahn konnte ich normal fahren. Die war nicht glatt. Mitten in der Nacht kam ich an. Um mich herum war Leere, gähnende Leere!

Die Beerdigung fand wenige Tage später statt. Die Totenmesse wurde zuvor in der Kapelle des Altersheims zelebriert. Auch der Leichenschmaus fand im Altersheim statt, damit möglichst viele Mitbewohner und -bewohnerinnen daran teilnehmen konnten, weil meine Großmutter im Hause sehr beliebt war. Mutter war nicht zugegen. Einige Tage danach kam sie spontan bei mir in Köln vorbei; wir tauschten uns kurz aus ohne ein wirkliches Gespräch zu führen, aber auch ohne jeden Vorwurf.
Meine liebe Oma lebt nicht mehr.
22.03.2023 p

 

 

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