11. Wer wartet noch auf mich?
11.1 Niemand!
Vieles ist nun anders oder vielleicht doch nicht?
Mit Mutter kann ich wirklich nichts anfangen, auch wenn es kurze Zeit gut zu gehen scheint. Leider fällt sie immer wieder in ihr altes Muster und ich bringe neben meiner anstrengenden, beruflichen Tätigkeit, nicht die Kraft auf, mich angemessen zu wehren, zu rechtfertigen o. ä.. Außerdem wirken ihre Attacken auf mich sogar rufschädigend, was ich überhaupt nicht gebrauchen kann und daher halte ich sie mir - durch Verleugnung - buchstäblich vom Leibe und das mit recht gutem Erfolg.
Hin und wieder treffen wir uns aber trotz allem in Köln, ich kaufe Dinge, die sie sich wünscht, wir essen etwas Schönes und sie fährt dann mit dem Zug nach Düsseldorf zurück, wo sie seit geraumer Zeit wieder lebt. Und so geht das einigermaßen mit uns Beiden. Zu ihr nach Düsseldorf fahre ich jedoch nie.
11.2 Mein Kirchenaustritt
Nachdem meine Großmutter nun schon einige Jahre tot ist, sah ich keinen Grund mehr, mich nicht von der katholischen Kirche zu trennen. Es war ein jahrelanger, innerer Kampf vorausgegangen. Lange schon hatten mich Anspruch und Wirklichkeit der Kirchenoberen gestört. Innerkirchliche, kritische Stimmen wurden mundtot gemacht. Ich erkannte Wiedersprüche in sich. Ausgrenzung. Teilweise gute Literatur stand auf dem Index.
Wunder ließen sich erklären, Dogmen konnte ich einfach nicht glauben. Mit meinem Glauben war das ohnehin so eine Sache, dass hatte meine Großmutter schon früh erkannt und immer wieder angesprochen: „Du bist eine Heidemuck. … Du kannst Dich nicht unterordnen.“
Filme großartiger Regisseure hatten das Ihrige zu meiner Entscheidung beigetragen. Hier möchte ich nur einige aufzählen: Bunuel, Chabrol, Goddar, Fellini …
Beim Amtsgericht füllte ich ein DIN A5 Blatt aus und damit war ich nun aus der katholischen Kirche ausgetreten. Tags darauf holte mich zufällig Mutter wieder einmal von der Arbeit ab. Wir fuhren - nach einem kleinen Imbiss - spazieren. Im Wald erklärte ich ihr meinen Schritt. Sie blieb wie angewurzelt stehen, schaute mich kopfschüttelnd und entsetzt an und kommentierte das Gehörte sinngemäß: „Was hast Du gemacht? - Paß auf, daß d i e Dir nichts machen.“ „Sei unbesorgt, Mutter, ich weiß, an wen ich mich dann zu wenden habe.“ Nichts wusste ich, gar nichts.
Tage später hielt ich ein Schreiben aus dem Erzbistum Köln in den Händen, gespickt mit Beschimpfungen, mein Verstand wurde mir in Abrede gestellt. Der Inhalt war bösartig. Es packte mich der Zorn und ritsch, ratsch, landete der Brief im Papierkorb. Heute tut mir meine impulsive Reaktion etwas leid und ihr könntet das evtl. jetzt lesen. Einige meiner Bekannten traten kurz darauf auch aus der katholischen Kirche aus. Uns allen ging es dabei nicht ums Geld, sondern wir gehörten einfach nicht mehr dazu.
24.03.2023 p
11.3 100 DM monatliche Rente
Als Mutter gar nicht mehr arbeiten konnte, bekam sie eine minimale Rente, es müssen etwa 100,00 DM gewesen sein. Es gelang ihr wohl zeitweise noch ein bisschen hinzuzuverdienen. Als sie jedoch auf die 70 Jahre zu ging, war ihr das nicht mehr möglich. Mutter hatte offenbar ihre Krankenversicherung gekündigt, auch die Rundfunkgebühr wollte sie nicht mehr zahlen und erwartete von mir, dass ich diese zusammen mit ihrer Mietzahlung übernahm. Natürlich tat ich das, denn ich fühlte mich als Tochter ihr gegenüber verpflichtet, obwohl ich ihr Verhalten mir gegenüber einfach nicht verstand und auch nicht akzeptieren konnte.
Urplötzlich erhielt ich ein Schreiben der Stadt Düsseldorf, in dem ich zu monatlichen Zahlungen an meine Mutter offiziell verpflichtet wurde. Das war mir zu viel. Schnell musste ich reagieren. Nun trat der Zufall ein, dass ich den alten Brief des Geistlichen noch fand, den er an den Dekan geschrieben hatte, als ich mein Studium unterbrechen musste, um meine todkranke Großmutter zu Hause zu pflegen. Weitere amtliche Personen und Hildegards Mutter, die meine familiäre Situation gut kannten, halfen mir, diese ungerechte Zahlungsverpflichtung von mir abzuwenden, da ich mit ihrer Hilfe nachweisen konnte, meine Großmutter über viele Jahre versorgt und dazu sogar mein Studium - während meiner Examenszeit - unterbrochen zu haben. Als ich das Schreiben mit weiteren Belegen bei der Stadt Düsseldorf einreichte, wurde ich jeder Zahlungsverpflichtung enthoben. Von dem Amt hörte ich nichts mehr, die Zahlungsverpflichtung war erfolgreich abgewendet, da man nur einmal verpflichtet werden kann, für bedürftige Angehörige zu sorgen und nicht für alle und fortwährend gerade zu stehen hat.
Damit war das Tuch zwischen Mutter und mir völlig zerschnitten. Es war Schluss! Ab da hörte ich nichts mehr von ihr, sie hatte den Kontakt zu mir abgebrochen. Ich empfand es zunächst als eine Entlastung und Befreiung.
Seltene Fragen nach meiner Mutter beantwortete ich - wenn überhaupt - sehr einsilbig.
Spät abends erhielt ich ein Telefonat. Ein Herr von der Post las mir ein Telegramm vor. Meine Mutter ist tot. Ich solle mich umgehend mit der Vermieterin in Verbindung setzen, um die Wohnung zu räumen. Mit dem Postbeamten unterhielt ich mich ziemlich lange. Worüber wir im Einzelnen geredet hatten, weiß ich nicht mehr. Anschließend führte ich auch noch mit der Wohnungsvermieterin ein ausführliches Telefongespräch.
Tags darauf erfuhr ich im Krankenhaus in Düsseldorf, dass sie eine beidseitige Lungenentzündung hatte und an einer Embolie gestorben sei. Der behandelnde Arzt erklärte mir kurz, man habe nach ihrem Tod entdeckt, dass sie die Medikamente gar nicht eingenommen, sondern gesammelt hatte. Mir wurde ein blauer Plastiksack mit ihren paar Habseligkeiten übergeben, mit den Worten: „Wir wussten gar nicht, dass die Verstorbene noch eine Tochter hat.“ Und ich wurde auf dem Krankenhausflur stehen gelassen. Dieser Mensch zeigte sich mir gegenüber sehr unsensibel, so wie manche Ärzte nun mal sind.
Dass Mutter aus reinem Misstrauen dieser Art Medizinern gegenüber die Medikamenteneinnahme verweigert hatte, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
Und dann war Ger zur Stelle, eine wahre Freundin. Sie kam nach Düsseldorf gefahren, um mir zu helfen und mir beizustehen. Sie hatte mir das gleich angeboten und ich war froh, nicht allein zu sein. Sie half mir die Sachen in der Wohnung zu sichten und zu sortieren und mich - vor den aufgebrachten Mitbewohnerinnen des Mietshauses - zu schützen. Wir warfen fast alles von Mutter weg, und ich war wie willenlos. Ger stopfte ihr Auto randvoll mit Klamotten, um die Dinge bei sich zu entsorgen, denn am nächsten Tag wurde der Sperrmüll bei ihnen abgeholt, sonst hätte ich an die Vermieterin noch eine hohe Müllgebühr zahlen müssen.
Anschließend begleitete mich Ger noch zu einem Beerdigungsinstitut in der Nähe. Mir wurde aufgezählt: „Kerzen“ Ger dazu laut und vernehmlich: „…, das brauchst du nicht.“ „Weiße Handschuhe für die Träger“ Ger: „…, das brauchst du nicht.“ „Blumenschmuck“. Sie wieder: „…, das brauchst du nicht.“ So ging das eine ganze Weile: „…, das brauchst du nicht.“ Im Nachhinein noch kann ich froh sein, dass Ger zugegen war, denn die hätten mir in dem Institut in der Situation, in der ich mich befand, alles verkaufen können, wenn Ger nicht ständig gesagt hätte: „…, das brauchst du nicht.“ und ich ihrem Rat blindlings folgte. Ich hatte das Gefühl, dass sie uns - zumindest Ger - am liebsten hinausgeworfen hätten, aber Haltung bewahren mussten.
Danach fuhren wir beide mit unseren randvoll beladenen Autos getrennt nach Hause.
Zu Hause angekommen entlud ich meinen kleinen Polo und packte Sachen von mir aus meiner Wohnung für Mutters Einzimmerwohnung wieder hinein: Decken, Gardinen und einen schmucken Wollteppich, den ich sehr mochte. Die Vermieterin hatte einiges an Beschädigungen entdeckt und von mir nachdrücklich Ersatz verlangt. Am nächsten Tag führ ich erneut zu der Wohnung. Dieses Mal begleitete mich Heinz, um mich beim Putzen und Aufräumen zu unterstützen. Wir machten alles schön. Alles sah gefälliger aus, als es vorher je gewesen sein konnte. Heinz hatte tatkräftig zugepackt, war gleichzeitig jedoch auch Zeuge dafür, dass ich die Wohnung in einwandfreiem Zustand an die Besitzerin übergeben hatte. Das hatte dann doch Eindruck bei der Dame hinterlassen, denn sie hatte ganz offensichtlich einen größeren Geldbetrag von mir erwartet.
11.4 Die Beerdigung
Von meinen wenigen Freunden begleitete mich am Tag der Beerdigung nur Richard auf dem Friedhof. Meine Mutter war, außer Ger, niemandem von ihnen bekannt. Nach der normalen Werktagsmesse, um 08:00 Uhr, wo nur mit einem Nebensatz meiner verstorbenen Mutter gedacht wurde - mehr hatte ich offenbar nicht bestellt - war die Beerdigung auf dem Nordfriedhof angesetzt.
Richard und ich kamen in der Leichenhalle an. Die Orgel spielte bereits. Ich wurde ganz nervös, denn Orgelmusik hatte ich nicht bestellt. Die Orgel spielte aber die ganze Zeit.
Von den zwei Kränzen, die in der Halle aufgestellt waren, fiel mir nur der wunderschöne Kranz meiner Kollegen und Kolleginnen auf. Ich konnte keinen Blick von ihm lassen. Der Sarg wurde aufgenommen, was da gesprochen oder gebetet wurde, weiß ich nicht mehr. Richard und ich schritten hinter dem Leichenzug - bestehend aus dem Geistlichen und seinem Diener - her. Vor lauter Tränen konnte ich kaum etwas sehen und das Gehen fiel mir äußerst schwer. Der Pfarrer murmelte seine Gebete und Richard sagt immer wieder zu mir deutlich und vernehmlich in seinem klaren Hannoveraner Deutsch: „Atmen!“ Nach einer kurzen Zeit, wenn er mich schluchzen hörte, wieder: „Atmen!“ „Atmen!“ Und das hallte in meinen Ohren.
Der Leichenschmaus wurde in der, unweit des Friedhofs gelegenen, Schlachthof-Gaststätte eingenommen - natürlich nur zu zweit!
-Mutter kannte kaum einer, ich ja auch nicht richtig, bis zu ihrem Tode nicht. Sie war wie eine Getriebene. Es war wohl auch so, wie ich ihren wenigen Worten darüber entnehmen konnte. Und nun ist sie tot. - Agnes ist nicht mehr!-
So habe ich auch heute - außer diesen Erinnerungen - so gut wie nichts mehr von ihr.
Vieles ging mir durch den Kopf, so auch ihr inniger Wunsch nach einem kleinen Hund und meine abweisende Reaktion darauf: „Was willst Du denn damit? Du bist ja noch nicht einmal in der Lage, Dich selbst zu ernähren, wie willst Du denn da auch noch für einen Hund sorgen.“
Monate lang nach ihrem Tod quälte ich mich mit bitteren Vorwürfen. Einige wenige Freundinnen und drei Freunde - Heinz, Raphael und Richard - aber hielten zu mir und haben mir in der Zeit sehr geholfen, sie waren einfach immer für mich da, auch hier besonders aber wieder G e r.
10.04.2023 p
11.5 Trauerfall zu Beginn meiner Irlandreise
So traurig auch alles gewesen war, ich hatte nun mehr Zeit für mich und konnte neben meinem anstrengenden, zeitraubenden Beruf einiges unternehmen, so kleine, gleichwohl interessante Reisen. Ich hatte in den Sommerferien eine mehrwöchige Reise nach Irland geplant und Ellen hatte Lust, mitzukommen. Mit Bahnen, Fähren und Bussen sollte es nach Irland gehen. Hin- und Rückfahrt über Großbritannien waren mittlerweile fest gebucht, dort angekommen, wollten wir uns dann aber mehr oder weniger zur Westküste und ein Stück daran entlang treiben lassen. Es herrschten Vorfreude und so etwas wie Reisefieber.
Spät abends ein Anruf; Hildegards jüngste Schwester war am Apparat. Deren Mutter war tot. Sie hatte sich das Leben genommen. Es war ein Schlag für alle, auch für mich. Die Beerdigung sollte am Tag unserer festgebuchten Abreise stattfinden.
Ich musste dahin; aber wie das alles schaffen?
Ellen - als routinierte Autofahrerin - sah darin kein Problem. Während ihres Studiums nämlich fuhr sie Taxi, um Geld zu verdienen. Sie fuhr mich also nachmittags - die 180 km - sicher zum Friedhof. Dort begegnete ich einigen aus der Familie und ein kurzer Austausch war noch möglich. Für den Beerdigungskaffee blieb mir leider keine Zeit mehr; Ellen und ich mussten umgehend nach Köln zurückfahren. Ellen drückte auf die Tube. Wir fuhren nach Refrath zu einer Kollegin und konnten dort das Auto und die Trauerkleidung lassen. Mit Straßen- und U-Bahn ging´s von da aus weiter zum Kölner Hauptbahnhof. Gerade so schafften wir noch den Zug nach Ostende, um mit der Fähre nach Dover überzusetzen. Jetzt konnten wir uns endlich fallen lassen. Nein, aber nicht ich! Ich fiel in eine tiefe Trauer. Alles war schön, alles war gut, ich sah auch „alles sehr positiv“. - Mit mir war einfach nichts los.
Irgendwann - es war in Connemara, auf dem Weg zu den Twelve Pins - brüllte Ellen mich an: „Sag mal, was ist eigentlich los mit Dir? Ich verstehe Dich nicht mehr. Du tust ja nun wirklich so, als wäre das D e i n e Mutter gewesen.“
Ja, genau so war es auch. Hildegards Mutter war auch zu mir wie eine Mutter, wie eine gute Mutter! Sie war besser zu mir, als meine Mutter.
Und, sie liebte die „Grüne Insel“ und war einige Male dort hingereist. Auch ich liebte Irland. Die Insel ist bis heute „mein liebstes Land“.
Unsere Reise ging weiter und ich riss mich zusammen, denn Spielverderberin wollte ich nicht sein. Die Trauer jedoch ließ mich lange Zeit nicht los.
16.04.2023 p