GeschichtenC1

 

Teil III

Ein völlig unerwarteter Verlauf

 

 

Prolog

Josi erlebt 1998 – innerhalb von vier Monaten – einen Blick in die Vergangenheit. Den hat sie weder gesucht, noch absichtlich herbeigeführt.

 

1. Rein zufällig findet Josi in Dortmund ein neues Zuhause

1.1 Ein „differenter Charakter
Josi lernt die unterschiedlichsten Menschen kennen. Sie jedoch ist vorsichtig, zurückhaltend, fast schüchtern. In den hinteren Reihen fühlt sie sich wohler, als im Vordergrund, so auch im Beruf. Je nachdem von wem, wird sie sehr unterschiedlich betrachtet und eingeschätzt: Als unnahbar, arrogant und abweisend; Landpomeranze, Mauerblümchen; ängstlich, unfähig; zuverlässig, pflichtbewusst; „harte Schale, weicher Kern“ und einiges mehr. Eigene Fehler einzugestehen gehört zu ihrer Ethik. Von manchen wird sie dafür und für ihr konsequentes Handeln geschätzt. So suchen diese ihre Nähe und ihre Unterstützung und sie hilft, wo es ihr möglich ist. Trotz allem ist sie auch sehr allein, manchmal sogar einsam und fühlt sich mitunter unverstanden.
Harte Auseinandersetzungen, Diskussionen oder sogar Streit mag sie überhaupt nicht. Das Schlimmste für sie aber sind Lügen und Betrug. Menschen, die ihr so etwas antun, lässt sie fallen „wie eine heiße Kartoffel“. Das liegt in ihrer frühesten Kindheit begründet. „Wehe, du lügst!“ Wagte sie es dennoch und wurde ertappt, so wurde sie „nach Strich und Faden verkamisolt“. Irgendwann begann sie Unwahrheit und Ungerechtigkeit zu hassen.
Zur Entspannung geht sie gern ins Grüne. Sie geht sehr schnell und stampfend. Ihre Gangart ist laut und unüberhörbar. Die Natur, vor allem der Wald, ist ihr Zuhause. Unternehmungen wie Theater- und Konzertbesuche und da stellen für sie die Brühler Schlosskonzerte - unter der Leitung von Helmut Müller-Brühl - besondere Highlights dar. Während der Konzerte darf sie sogar auf dem Pressestuhl sitzen, wenn er frei bleibt. Kurz- und Städtereisen helfen ihr über Phasen der Einsamkeit hinweg. Und sie lernt wieder neue interessante Leute kennen, die sie mit Dankbarkeit erfüllen. Wenn´s für sie auch mal eng wird, so hat sie die richtigen Leute an ihrer Seite, so gut wie immer.

Inzwischen ist sie verheiratet. Doch leider ist sie manchmal krank, sogar schwer krank, muss einige komplizierte Operationen über sich ergehen lassen, die lange Genesungszeiten mit teils großen Einschränkungen zur Folge haben. Es ist für Beide schwer, manchmal zu schwer und so auch 1998.

Ihr Mund ist völlig kaputt, sie kann nur weiche Nahrung zu sich nehmen. Keiner kann ihr richtig helfen, sie sucht und hat Angst, schon buchstäblich Panik. Sie ist in einer Situation, die sie direkt als lebensbedrohlich empfindet. Verschiedene „Mundsanierungen“ hat sie bereits - mit kurzzeitigen Erfolgen - überstanden. Die nun neu empfohlenen Therapien erscheinen ihr zu aufwendig, zu teuer und daher fragwürdig. Da sie kaum essen kann, ist sie völlig abgemagert und sieht sich nur noch als eine Belastung für ihren hart arbeitenden Mann. Sie muss weg, Sie hofft, von ihrer Freundin Hildegard in Münster verstanden zu werden und Hilfe zu erfahren.

1.2 Der Zug fährt nicht weiter
Es war 1998, der Samstag vor Pfingsten. Josi saß in dem „EC 28 Joseph Haydn“ und genoss im Speisewagen des österreichischen Zuges ihr Abendessen, eine sehr weiche Mahlzeit. Ihr Reiseziel war Münster. Der Zug ruckelte und wackelte. Auf der Höhe von Düsseldorf befürchtete sie sogar, der Zug könne die steile Böschung hinunterfallen. Ein leichtes Raunen ging durch das Restaurant-Abteil.

Der Zug fuhr in den Dortmunder Hauptbahnhof ein und stand. Er stand lange, die Abfahrtszeit war um einiges überschritten. Es ging bereits auf die 20:00 Uhr zu. Der Zug könne wegen eines Bremsschadens nicht mehr weiterfahren, so hieß es. Alle Fahrgäste wurden gebeten auszusteigen. Es ging für Josi an dem Abend also nicht mehr weiter, das war klar. Die Fahrt endete hier.

Auch sie stieg aus und ging - in dieser für sie fremden Stadt - Richtung Zentrum. Sie schleppte sich eher, denn so schwach fühlte sie sich. Sie fragte ein junges Paar nach einem guten, preiswerten Hotel. Das Paar bot ihr an, von sich zu Hause aus, für sie ein Hotelzimmer zu suchen. Handys gab es zwar schon, aber nur wenige besaßen eins. Mobilfunk war noch kaum verbreitet.
Aus dem Telefonbuch wurde ein schönes Hotel, am Stadtrand gelegen, ausgewählt. Josi hatte Glück, ein Zimmer war über die Pfingstfeiertage zu einem passablen Preis tatsächlich noch zu haben und die beiden Leutchen brachten sie dort hin.
Sie hatte wiederum ein solches Glück in dieser schwierigen Situation, den richtigen Menschen begegnet zu sein.

1.3 Ein furchtbares Zugunglück mit vielen, vielen Toten
So schwach wie Josi ist, geht sie trotzdem immer wieder hinaus an die frische Luft. Sie geht, weil sie spürt, dass ihr das Gehen - wie schon immer - gut tut.
Mittwoch nach Pfingsten fährt sie vormittags mit der Straßenbahn ins Stadtzentrum, um dort Kleinigkeiten zu kaufen und auch, um in einer ruhiggelegenen Telefonzelle einige kurze Telefonate führen zu können. Sie befindet sich gerade auf dem Westen-Hellweg, als aus Lautsprechern eine Nachricht über ein furchtbares Eisenbahnunglück ertönt. Sie bleibt stehen, es wird ihr schwindlig und schwarz vor Augen. Sie setzt sich auf ein Mäuerchen. Ihr ist plötzlich kalt, sie friert im Gesicht, obschon es sonnig und schön warm ist. Fassungslos!
Langsam geht sie zum Hauptbahnhof. In der Halle sind viele Menschen. Trotzdem ist es still, alle scheinen in tiefer Trauer versunken zu sein. Manche weinen, auch Josi steht da und ihre Tränen fließen.

Noch Tage später, wenn Josi durch den Bahnhof geht, bleibt sie vor dem großen Bildschirm in der Eingangshalle stehen, um die Nachrichten und den Ermittlungsstand des schweren Unglücks zu verfolgen. Für sie ist es fast so, als sei sie selbst davon betroffen. Mit der Bahn fühlt sie sich ja immer schon sehr verbunden, schon seit ihrer frühesten Kindheit. Und dieses schwere Unglück - mit den 101 Toten - berührt sie zu tiefst. Diesen Unglückstag vergisst sie nicht mehr, es war der 3. Juni 1998.

1.4 Josis neues Zuhause
Auf Dauer hätte sie nicht in Hotels wohnen können, denn ein Hotelaufenthalt über Wochen wäre für sie unbezahlbar geworden.

Ellen war plötzlich wieder zur Stelle. Sie erkannte Josis missliche Lage sogleich, auch wenn sie sich manchmal darüber belustigte und dies auch Josi gegenüber offen zeigte. Sie lieh Josi für einen Zeitraum von drei Monaten 2500 DM für 3 % Zinsen. Außerdem half sie ihr, über eine Agentur eine erschwingliche Bleibe zu finden, denn es musste schnell gehen. Und letztendlich zog Josi mit ihren paar Habseligkeiten am 08.06.1998 in ein möbliertes Zimmer mit Schlafsofa, Pantryküche und kleinem Duschbad - in Huckarde, unweit der Bahn - ein. Es war purer Zufall, in Huckarde gelandet zu sein.

Die Stadt Dortmund gefällt Josi, da sie auffallend grün ist. Sie hat einige ausgedehnte Parkanlagen und hinter den meisten Häusern befinden sich blühende Gärten. Dortmund kennt sie nicht, nur aus den vielen früheren Erzählungen ihrer Großeltern hatte sie von Dortmund gehört. Und einmal hatte sie einen Schulausflug in den Westfalenpark erlebt. Vielleicht war das 1959? Die Erinnerungen daran sind jedoch verblasst.

Josi ist anfangs häufig Besucherin des Westfalenparks. Der Eintritt für 2,50 DM ist für sie noch zu stemmen. Wenn sie dort In dem Restaurant Buchmühle ein Essen bestellt, ist die Bedienung sehr verständnisvoll und freundlich. Sie zeigt ihr kurz das Essen und trägt es zurück in die Küche, damit es dort durchgemahlen wird. Es wird ihr wieder als ein unansehnlicher Brei vorgesetzt und sie kann diesen nun - ohne kauen zu müssen - essen. Der Geschmack leidet kaum. Sie ist froh und dankbar für diese große Hilfeleistung.

Dortmund und der Westfalenpark bedeuten für sie pure Erholung, vergleichbar mit einem Kuraufenthalt.

Sie findet mit Hilfe eines ebenfalls schwierigen Patienten einen guten, gewissenhaft arbeitenden Zahnarzt. Viele Termine erstreckten sich über einen Zeitraum von annähernd drei Monaten. Der Zahnarzt und sein Zahntechniker kriegten es in diffiziler Kleinarbeit hin.

Leuten, denen sie häufiger im Park begegnet, nehmen wahr, dass es ihr immer besser geht und sie äußern sich ihr gegenüber anerkennend bzw. ermutigend.
Den Park liebt sie, vor allem auch im Rosarium betreibt sie ihre Studien. Der Park ist ebenfalls ihr neues Zuhause!
Die Sammlungen für die Sanierung des Florianturms im Westfalenpark: „dreh dich“ unterstützt sie - jedes Mal, wenn sie den Park betritt - gerne mit einem kleinen Obolus. Eine sich langsam drehende Plattform mit einem Restaurant sollte auch in diesem Fernsehturm eingerichtet werden, so wie beispielsweise im Fernsehturm von Berlin oder Köln.

1.5 Mobilfunk
Inzwischen hatte auch Josi sich ein Handy zugelegt. Das leichteste Gerät, das damals auf dem Markt war. Ein Gerät von Alcatel mit einer herausziehbaren, langen, blanken Metallantenne. Den Vertrag schloss sie mit dem Mobilfunkanbieter Mannesmann ab. Die Gebühren waren hoch. Da sie aber keinen Festnetzanschluss bekam, war das Handy für sie sehr wichtig geworden, um ihre Kontakte zu Freunden halten zu können.
Anfangs schaute sie sich, wenn sie unterwegs war, beim Klingelton noch um und realisierte oft zu spät, dass es ihr eigenes Handy war, das in ihrer Handtasche geklingelt hatte. Aber man gewöhnt sich an alles. Nun war sie nicht mehr isoliert. Sie verabredete sich mit Ellen, Ger, Hildegard und auch ihr Mann rief sie täglich an, um sie zu überreden, wieder zu ihm nach Hause zu kommen.
Wieder einmal marschierte Josi gerade durch den Rombergpark - ein weiterer Park in Dortmund - zum Zahnarzt, der in der Nähe seine Praxis hatte, als Ger sie anrief, um mit ihr ein Treffen zu vereinbaren. Ein junges Paar war in Josis Nähe und empörte sich lautstark über ihr vermeintlich ungebührliches Verhalten: „Jetzt sind se schon so verrückt geworden und laufen telefonierend im Park umher.“ Na, ja, Kommentar überflüssig!
18.06.2023 p

 

2. Unverhoffter Blick zurück

2.1 Die Steinwache
Hinter dem Bahnhof, gegenüber der Hauptpost fällt Josi ein seltsam, strenger Bau auf. Was ist das für ein merkwürdiges Gebäude? Josi geht hin und entdeckt das alte Gestapogefängnis aus der NS-Zeit - heute eine Gedenkstätte. Hier saßen viele, auch ihr bekannte Persönlichkeiten, vornehmlich aus Westfalen, ein, so auch der spätere Bischof und Kardinal Johannes Degenhardt, als junger Mann. „War Mutter etwa auch hier?“ Drei Tage hintereinander besucht Josi die Steinwache und liest intensiv die Bildtafeln auf den drei Etagen. Nur den Keller, die Folterstätten lässt sie aus. Sie will diese menschenverachtenden, barbarischen, blutrünstigen Methoden nicht sehen, das erspart sie sich bzw. tut sie sich nicht an.
Am dritten Tag wird sie mehrfach aufgefordert, das Haus zu verlassen, weil die Zeit um ist und das Gebäude geschlossen werden soll, das Personal möchte gehen. Zunächst bekommt Josi das gar nicht mit, da sie sich sehr in die Materie vertieft hat. Sie ist offenbar die einzige Besucherin der Gedenkstätte. Endlich erreichte sie die Aufforderung doch, mit dem lockeren Kommentar: „Ha, ha, machen Sie sich nur keine Sorgen, hier sind Sie sehr sicher. Wenn dieser Bau geschlossen ist, kommt hier keiner mehr rein, und Sie kommen aber erst raus, wenn wir am Montag wieder da sind.“ Oder so ähnlich!

2.2 Jähe Reise in eine Vergangenheit
Josi geht es bereits recht gut, so entschließt sie sich am 25.07.98 zu einer mehrstündigen Stadtrundfahrt durch Dortmund.
Plötzlich fallen die Ortsbezeichnungen: „Rombergpark“ und „Bittermark“, im Dortmunder Süden, am Rande des Stadtforstes. Es durchfährt sie wie ein Blitz. Sie fühlt sich wie vor den Kopf geschlagen, ihr wird richtiggehend schlecht. Das war´s! Das hatte sie gehört! Ihre Mutter hatte so geweint, bitterlich geweint. Sie, Josi, war noch ganz klein, aber dass ihre Mutter sehr weinte, hatte sie gesehen und jetzt kam plötzlich alles wieder in ihr hoch. Sie sah ihre weinende Mutter förmlich vor sich. Nie mehr später hatte sie ihre Mutter so weinen gesehen, wie damals. Eigentlich hatte ihre Mutter nie mehr geweint. Wo das seinerzeit war, kann sie nicht mehr erinnern. Ihre Oma und ihr Opa waren nicht da. Da war keiner.
Was damals genau passiert war, weiß sie nicht, und wen, der im März und April 1945, kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner in Dortmund, durch die Nazis Erschossenen, ihre Mutter kannte, weiß sie auch nicht, aber, dass ihre Mutter einige der Ermordeten gut gekannt haben musste, vermutet Josi stark.

2.3 Wird Josi geführt?
Da es Josi immer besser geht und sie inzwischen leicht zu Kräften gekommen ist, unternimmt sie viele kleine Ausflüge in die nähere Umgebung. Eine interessante Stadt im Ruhrgebiet ist für sie Bochum mit dem Planetarium, dem IMAX-Kino, dem Bergbaumuseum und dem Musical Starlightexpress, das sie besonders rasant findet. So fährt sie häufiger nach Bochum, um das eine oder andere anzuschauen.

Und dann fährt sie mehrmals nach Essen, u. a. zur Villa Hügel, die sie früher als Jugendliche einmal besichtigt hatte. Sie schaut sich auch die historische Stiftungssiedlung „Margarethenhöhe“ eingehender an. Das Folkwangmuseum und die Innenstadt findet ebenfalls ihre Aufmerksamkeit. Im Westchor des Doms bestaunt sie den jahrhundertealten, siebenarmigen Leuchter von allen Seiten und findet ihn wunderschön.
Eines Tages, Josi ist wieder einmal mit dem Zug nach Essen gefahren, schlendert sie ziellos durch die Innenstadt und sieht aus einiger Entfernung einen Kuppelbau, ähnlich wie das Planetarium in Nürnberg, das sie gut kennt. Interessant! Was mag das sein?
Sie marschiert darauf zu und betrachtet das Gebäude genauer. Moment, das da oben auf dem First sind doch steinerne Gesetzestafeln des Moses und im Rundfenster, ist das nicht ein siebenarmiger Leuchter? Das muss eine Synagoge sein.
Eine gut gekleidete, ältere Dame geht die Stufen hinauf und öffnet die große Eingangstür. Josi folgt ihr und befindet sich tatsächlich in einer Synagoge und gleichzeitig einem Museum.
Neben den Gegenständen für sakrale, rituelle Handlungen, die sie dort entdeckt, rufen manche Objekte des täglichen Bedarfs, Erinnerungen an ihre sehr frühe Kindheit hervor. Nicht zuletzt an die Synagoge in der Marktstraße, in der sie als kleines Mädchen sehr oft gespielt hatte, häufig auch mit den Katzen. Sie fühlt sich aber auch stark an das erinnert, was ihre Mutter ihr manchmal erzählt hatte, bzw. wovon sie ihr damals berichtete. Es kam sehr selten vor, dass ihre Mutter ihr etwas mitteilte, manchmal aber doch, so wie eine Art Belehrung oder gar ein Vermächtnis?
Sie, Josi, weiß nicht, wie sie es einordnen soll. Auf jeden Fall verlässt sie dieses Haus nach ihrem mehrstündigen Aufenthalt darin mit dem guten Gefühl, etwas Besonderes entdeckt zu haben.
Wird Josi geführt? Wer will ihr etwas zeigen?

2.4 Ger und die SPD
Im Hochsommer verabredet Josi sich mit Ger. Sie wollen sich in Benrath, bei Düsseldorf, in einem kleinen Kaffee treffen. Beide besichtigen kurz das Schloss und schlendern, sich intensiv unterhaltend, durch den weitläufigen Schlosspark. Sie haben sich, in völlig entspannter Atmosphäre, viel zu erzählen und auch nicht so Schönes zu berichten, denn sie hatten sich bereits längere Zeit nicht gesehen.

Im Ort selbst sind Parteistände aufgebaut, denn der Wahlkampf - vor der Bundestagswahl im September 1998 - hat begonnen. Ger steuert begeistert auf die Männer und Frauen des SPD-Parteistandes zu, wechselt mit ihnen kurz ein paar Worte und verabschiedet sich von ihnen fröhlich lachend und ihnen guten Erfolg wünschend.
Josi weiß nicht, was sie davon halten soll. Ger ist der Meinung: „Kohl muss weg!

Josi mochte das ständige Genörgel der Genossen überhaupt nicht. Streit - wie bereits mehrfach erwähnt - stellte für sie ein echtes Problem dar. Außerdem liefe es doch gut unter Kohl, meinte Josi. Der Kanzler verbreitete jedenfalls eine positive Grundstimmung und das war ihr wichtig.
Und das Zweite, was Josi an der SPD missfiel, war deren Schulpolitik. Die konnte sie schlicht und einfach nicht befürworten: Chancengleichheit, meinte Josi, sei mit deren Konzepte kaum zu verwirklichen, Gesamtschulen lehnte sie als Schüler-Massenbetriebe ab. Sie sah, dass Vieles immer stärker auf das Lehrpersonal abgewälzt werden sollte, ohne einen vernünftigen, gerechten Ausgleich zu schaffen. Das Lern- und Leistungsniveau wurde peu à peu gesenkt und das sah Josi als verheerend an. Schule wurde kaputt gespart, war Josis unumstößliche Meinung. Punkt um!
Kohl mochte sie als Person zwar überhaupt nicht, Schröder sagte ihr - rein vom Aussehen her betrachtet - schon eher zu. Aber das kann doch kein Gesichtspunkt für eine Wahlentscheidung sein, oder etwa doch? NEIN, das war es nicht.

Gers Wunsch ging in Erfüllung: Bei der Bundestagswahl am 27.09.1998 erhielten SPD und Grüne zusammen die Mehrheit, gingen eine Koalition ein, bildeten die neue Regierung und wählten Gerhard Schröder (SPD) zum neuen Bundeskanzler.

Josi brauchte noch Zeit. In nächster Zukunft lernte sie einige andere Genossen und Genossinnen - fast ausschließlich engagierte, gebildete, nette Menschen - als „vernünftige, sympathische Sozialdemokraten“ kennen,
Populisten“ und „Schreihälse“ wird sie nie mögen!

2.5 Unerwartete Begegnung mit Dr. Johannis Rau
Es ist ein sonniger Hochsommertag im August. Josi ist mal wieder bereits seit vormittags unterwegs. Inzwischen ist es später Nachmittag geworden; sie ist müde und will nach Hause. Zufällig kommt sie am Museum für Kunst und Kulturgeschichte vorbei und folgt den vielen Leuten. Josi trägt Straßenkleidung, ist verschwitzt, unendlich müde, hungrig und auch etwas mutlos, ihr ist gar nicht feierlich zu Mute.

Sie betritt den Saal und findet ziemlich weit vorne einen Platz. Hier erlebt sie Herrn Dr. Johannes Rau (SPD), den kurz vorher zurückgetretenen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, bei der Eröffnungsfeier der Wanderaus¬stellung „Jüdisches Leben in Westfalen“ aus nächster Nähe. Er erzählt in einem fast gemütlichen Plauderton, wie er zu der jüdisch-christlichen Zusammenarbeit gefunden hat. In seiner Rede fällt dann der bedeutende Satz, hier sinngemäß wiedergegeben: „Nimmt man aus den Regalen die Literatur, die Musik, ... “ Was bleibt dann noch? Deutschland hat sich durch den Holocaust selbst „amputiert“.
Josi ist tief beeindruckt. Die Feier ist ansprechend und schön. Die musikalischen Darbietungen gefallen ihr und die Rede des Herrn Rabbiners Brandt findet sie ebenfalls gut.

Josi verlässt in fast gehobener Stimmung und mit einem völlig anderen Bild von dem Ministerpräsidenten a. D. Johannes Rau (SPD) die Veranstaltung. Seit dieser Zeit sieht sie ihn positiv und ist froh, ihm auf diese Weise begegnet und so nahe gewesen zu sein.

Der Satz: „Nimmt man aus den Regalen die Literatur, die Musik, …“, wird für Josi zu einem Schlüsselerlebnis. Das war für sie in Dortmund, Sommer 1998, der entscheidende Denkanstoß des Herrn Dr. Johannes Rau, sozusagen noch als das I-Tüpfelchen, wodurch ihr klar wurde, das alles was ihr ihre Mutter früher erzählt hatte - jedoch viele nicht hören oder wahr haben wollten und sie dafür sogar anfeindeten - stimmte. Wie allgemein ernsthaft behauptet werden konnte, von all der Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung jüdischer Menschen, Angehörige anderer Volksgruppen, sowie Politiker und Widerständler nichts gewusst zu haben, erschließt sich Josi in keinster Weise.

Knapp vier Jahre später trat Josi - zusammen mit ihrem Mann - in die SPD ein.
Beide setzen sich zusammen mit anderen u. a. für mehr Gerechtigkeit, faire Gerichtsverfahren, Gewaltenteilung, Transparenz in Politik, Verwaltung, Exekutive und Wirtschaft und deren wirksame Kontrolle ein.
Auch die Umwelt ist ihnen Beiden sehr wichtig und daher arbeiten sie mit ihrer Kenntnis im Sinne einer guten Energie- und Klimapolitik und für saubere Luft, zum Atmen!

 

3. Agnes - der „zerbrochene Widerstand

Vieles war völlig anders, als Josi je gedacht hatte
Dass Josi ihre Mutter nicht mochte, sich ihrer sogar zeitlebens schämte, war bekannt. Sie mied sie, soweit es ihr irgendwie möglich war. Ihre Mutter ging ihr vollkommen auf den Geist.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Josi, nach einer längeren Zeit der Selbstvorwürfe und der Trauer, ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden und vieles hatte sie vergessen oder sogar verdrängt.
Durch das 1998 in Dortmund und im Ruhrgebiet Erfahrene rückte manches wieder in den Vordergrund, sozusagen in ihr Bewusstsein. Es war so, als würde sie geführt, so, als sollte sie Bestimmtes sehen.
Es fiel ihr ein, dass sie beim Entrümpeln des Zimmers in Düsseldorf, in dem ihre Mutter zuletzt gelebt hatte, ein sehr klein aufgefaltetes, stark vergilbtes Papier in der Hand hatte; eines der Schnittmuster könnte es gewesen sein. Was sollte sie damit? Weg war´s, ab in den Müll! - Schade, sehr schade!

Fast 25 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter schaute Josi die wenigen Stücke, die sie noch von ihr hat, durch und erkannte, dass ihre Mutter sehr oft - wie unsichtbar - in ihrer Nähe war. Bei Leuten, die ihre Mutter wegen der häufigen Verfolgungen durch ihren geschiedenen Mann und dessen jüngstem Sohn, dem Lehrer, abschirmten und moralisch unterstützten. Sie hatte so wenig Geld, dass es kaum für sie selbst ausreichte und sie niemals für den Lebensunterhalt ihres Kindes Josi hätte aufkommen können. Vermutlich hatte sie deswegen mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Leute, denen sie vertraute, informierten sie - offenbar auf ihren Wunsch - detailliert über „das Töchterchen“, also über Josi. Aber auch da hatte ihre Mutter schwere Enttäuschungen erfahren und hinnehmen müssen. Das Leben ihrer Mutter war „ein ständiges Hin und Her“, häufig aus Koffern heraus, eben überaus unstet. Sie war immer in großer Besorgnis oder gar Ängsten, nicht nur um sich und ihre eigene Existenz, sondern gerade auch um das Wohlergehen ihrer Tochter Josi und bat alle möglichen Menschen - auch aus dem Umfeld ihrer Tochter - auf sie gut aufzupassen und ihr, der Mutter, zu berichten. Und das war für Josi unerträglich und wurde von ihr direkt als Bevormundung, sogar als Angriff, bis hin zur Feindschaft bewertet. Ihrer Mutter gelang es nicht zu verhindern, dass Josi in den Staatsdienst eintrat, da ihre Mutter - auch nach der NS-Zeit - ein tiefes Misstrauen gegen beamtete Personen hegte. Heute noch erinnert sich Josi mit einem gewissen Schaudern daran. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist und bleibt gestört, auch nach dem Tod der Mutter, auch wenn sich für Josi mit der Zeit einiges aufgeklärt hat.
Ihre Mutter - Agnes - war ein gebrochener Mensch.
Josi sieht sie als den „zerbrochenen Widerstand“ an.
09.07.2023 p

 

 

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