26. Josis Vorschulalltag
26.1 Kindergarten - nein - da brauchte ich nicht mehr hin
Irgendwann kam ich in den Kindergarten. Auch andere Kinder aus der Straße waren dort. Ich wusste nicht, was ich da machen sollte. Mal hatte ich drei Perlen in der Hand, die ich vermutlich nicht haben durfte. Dann hatte ich ein paar Bauklötzchen genommen, das war wohl auch nicht richtig. Mir gehörte nichts, ich hatte nichts. Ich bekam häufig Schimpfe. Irgendwann heulte ich nur noch. Das war natürlich wohl für die anderen auch kaum zu ertragen, also wurde ich in den Waschraum gesperrt. Dort stand ich am Fenster und konnte in den Pfarrgarten gucken. So beruhigte ich mich allmählich. Irgendjemand holte mich mittags wieder ab und ich war froh, zu Hause zu sein. Das ging Tage, wenn nicht sogar Wochen so.
Irgendwann wurde Mutter das gewahr und Schluss war: „Ich zahle nicht dafür, dass diese Göre Gott und die Welt zusammen heult.“ Oder so ähnlich, außerdem konnte sie den Sinn dieser Einrichtung offensichtlich nicht erkennen: „Spielen kannst du auch bei Oma und Opa.“
Ich war vollkommen der gleichen Meinung und war zufrieden. Da musste ich nun wirklich nicht mehr hin. Ich wollte da ja auch nie hin, ich wollte in die Schule. Dort wollte ich lernen, so wie die beiden Mädchen von neben an, die auch in der Schule waren. Manchmal kamen sie mit ihrer Fibel zu uns und lasen mir etwas daraus vor. Davon konnte ich nicht genug kriegen. Ich war traurig, wenn sie aufhörten zu lesen. Lesen lernen wollte ich auch. Und wenn ich groß bin, wollte ich Ärztin werden oder auch Lehrerin, das wusste ich nicht so genau. „Das brauchst Du jetzt auch noch nicht zu wissen, du hast noch sehr viel Zeit.“ Na, ja, was jetzt „Zeit“ ist, wusste ich nicht so ganz, aber egal.
26.2 Spielen, kann ich auch anders wo
Ich spielte alles, alles was ich gehört und gesehen hatte. Ich spielte in meiner Ecke oder unter dem Küchentisch oder auf der Synagoge oder auf der Straße mit Nachbarskindern. Mit den Kindern war´s am schönsten. Wir spielten in der Gosse, im Matsch und buken Brote aus Lehm oder formten den Lehm zu kleinen Figuren, bauten Tunnel und Brücken und was uns sonst noch so einfiel und möglich war.
Auch Laufspiele, wie „Kriegen spielen“, mochte ich sehr. Aber am tollsten war „Suchen spielen“. Und das ging so: Einer oder eine, die suchen musste, stand gegen eine Wand gerichtet und hielt sich die Hände vor die Augen und zählte vielleicht bis zwanzig und in dieser Zeit versteckten sich die anderen schnell. Dann rief das Kind, das suchen sollte, laut: „Ich kooommeee! “ Alle übrigen saßen mucksmäuschenstill in ihren Verstecken. Eine nach der anderen - wir waren meistens nur Mädchen - versuchte unbemerkt, zum vorher vereinbarten Anschlag zu gelangen. Das war nicht immer leicht. Wer von dem Kind, das suchen musste, vorher gesehen, also erwischt worden war und es nicht vor dem Suchenden zum Anschlag schaffte, musste beim nächsten Mal alle anderen suchen. Dieses Spiel wurde von uns oft mehrmals wiederholt.
Ich wollte nicht suchen und es gelang mir fast immer, unbemerkt zum Anschlag zu kommen, denn mein Versteck kannte niemand und es blieb mein Geheimnis. Wenn das Spiel losging, rannte ich schnell zum Schweinestall auf Elsbeths Bauernhof, kletterte in den Schweinekofen und versteckte mich hinter der Sau. Die Sau ließ oft, wenn ich angerannt kam, ein leises Grunzen hören, war dann aber ganz still und verriet mich nie. Sie machte einfach mit. Beide waren wir ein eingespieltes Team. In einem günstigen Moment lief ich vorsichtig aus dem Stall hinaus und von hinten zu dem festgelegten Anschlag. Schon wieder hatte ich Erfolg.
Die anderen Mädchen in der Straße hatten auch Puppen und Puppenwagen, ich auch, aber nicht für draußen. Meine Puppen waren aus Stoff. Eine hieß „Rotkäppchen“ und sah auch so aus. Der Puppenwagen war ein - auf einem Holzgestell mit vier Rädern montierter - Karton, der durch einen bunten Stoffvolant kaschiert war. Er hatte sogar ein Verdeck, das ich rauf und runter klappen konnte. Und all das durfte bloß nicht nass und schmutzig werden. Im Sommer, wenn wir im Garten Porree ernteten, bekam ich daraus eine Puppe gemacht, sie sah sehr komisch - sogar lustig - aus. Als ich etwas älter war, schenkte Mutter mir zu meinem Namenstag eine Zelluloidpuppe von Schildkröt. Oma nähte ihr schöne, bunte Kleider. Aber das Spiel mit Puppen war nicht so mein Ding.
26.3 Tiere sind meine Freunde
Am liebsten spielte ich sowieso mit Tieren. Ein Schäferhund war ein guter Spielkamerad. Manche von ihnen waren größer als ich, aber sehr lieb. Sie hörten aufs Wort. Wenn Opa dabei war, machte das Spiel mit einem Hund großen Spaß. Opa und ich warfen Lehmbrocken hoch in die Luft und der Hund fingen sie auf und zerstieß sie dabei mit seiner Schnauze. Opa zeigte mir genau, wie die Lehmbrocken zu formen waren. Ich hatte darauf zu achten, dass ja kein Stein in dem Brocken war, der den Hund hätte verletzen können.
Waren wir im Garten bei der Mühle, spielte ich oft ganz allein, weil keine Kinder in der Nähe waren. Weit weg gehen durfte ich nicht, denn ich sollte immer in Sicht- und Hörweite bleiben. Das tat ich auch, ohne viel zu fragen, ich war sehr brav.
Der Garten lag direkt am Bach und ein Steg führte auf die auf der anderen Seite gelegene Wiese. Dieser Steg war oft mein Spielplatz. Ich legte mich bäuchlings über ihn und fischte mit meinen Händen alles Mögliche aus dem Wasser heraus: Kleine Köcherlarven, bunte Steinchen und und und. Stundenlang war ich so beschäftigt, bis die Hände eiskalt waren und ich kein Gefühl mehr in ihnen hatte.
Auf der anderen Seite der Wiese war der Mühlgraben und über den war ein Holzzaun gebaut. Der diente mir als Brücke. Ich ging Schrittchen für Schrittchen ganz vorsichtig über den Zaun auf die andere Seite des Grabens. Dort war ein Fuchsbau und ich konnte mit viel Glück die kleinen Füchslein beim Spiel beobachten. Aber der leiseste Knacks und sie waren verschwunden und ich sah sie dann nicht mehr. An ein paar Sommertagen war es mir jedoch gelungen, ihnen zuzuschauen. Ich wusste, dass ich sie nicht verraten durfte, denn Füchse waren bei den Bauern nicht beliebt und wurden getötet. Ihr Bau wurde ausgeräuchert, das hatte ich schon mitbekommen.
11.01.2022 p
26.4 Unliebsamer Besuch
Herr P. besuchte häufiger meinen Opa. Die beiden fachsimpelten miteinander, über Gartenbau und Viehzucht, sprich Tierzucht. Herr P. kam nie allein, sondern immer mit seinem großen, sehr gepflegten Schäferhund. Der Hund nahm dann jedes Mal unter unserem Küchentisch Platz. Das war aber einer meiner Plätze und ich mochte das gar nicht, denn ich musste ausweichen. Der große Hund flößte mir manchmal Angst ein. Herrn P.s Hund tat mir nichts, aber er erschreckte mich manchmal fürchterlich, denn er war ein Wachhund und das sollte er unter Beweisstellen, nur so zum Spaß. Sein Herrchen forderte ihn auf „gib Laut“ und das tat der Hund dann auch lautstark, so dass ich jedes Mal sehr zusammenzuckte, auch wenn das „Wuff“ schon zu erwarten war, denn ich kannte das ja. Eigentlich mochte ich Tiere sehr und - wie ihr bereits erfahren habt - Schäferhunde besonders. Aber Herrn P. und seinen Hund, wegen dieses schrecklich lauten „Wuffs“, über das ich fast immer gewaltig erschrak, mochte ich überhaupt nicht. Und eines Tages, es war im Winter, versteckte ich Herrn P.s feine Lederhandschuhe, mit denen er immer so angab, klammheimlich hinter unserm Küchenherd. Irgendwann bemerkte er den Verlust und fragte bei uns nach. Keiner hatte die Handschuhe aber gesehen, sie waren weg. Herr P. kam nicht mehr zu uns, denn er betrachtete uns sicherlich als Diebe. - Ich glaube, die Handschuhe wurden erst Jahre später gefunden, vielleicht bei unserem Auszug aus der Notwohnung.
12.01.2022 p
26.5 Die Dampflok
Gerne ging ich mit in die Stadt zum Einkaufen oder wenn sonstige Besorgungen anstanden. Beim Metzger gab es eine Scheibe Wurst für mich. Im Kolonialwarenladen am Markt bekam ich ein Himbeerbonbon. Wir trafen Bekannte oder sonstige Leute und das war manchmal sehr interessant. Gingen wir die Bahnhofstraße hinunter und ich entdeckte die Dampfwolke rechts über den Bäumen, gab es kein Halten mehr. Kein Ablenkmanöver half, ich musste dahin. Großes Gezeter, großes Geschrei, wenn es hieß, wir müssen jetzt sofort nach Hause. Nein, nein, schnell, schnell an die Bahnschranke und dann: Gucken und Staunen, wenn die große, schwarze Lokomotive schnaufend und fauchend an mir vorbei in den Bahnhof einrollte. Und manchmal pfiff sie so laut, das ich erschrak, aber das war eben so. Diese große Maschine hatte es mir angetan Ich konnte mich an ihr nicht satt sehen. Sie war wunderbar, mit ihren riesigen Rädern und den Stangen dazwischen, die sich durch die Radumdrehung hin und her bewegten. Und dann stand sie da, die große Lokomotive. Ich bewunderte sie jedes Mal wieder aufs Neue. Manchmal wurde Wasser abgelassen und es fauchte oder in die Lok wurde neues Wasser eingefüllt. Danach verließ sie langsam und schnaufend den Bahnhof. „Tuff tuff tuff .. tuff tuff tuff …“, ich war hin und weg …. Natürlich zog die Lok auch Wagons hinter sich her, es war ja ein Zug. Im Bahnhof stiegen auch Leute aus diesem Zug aus und andere wieder ein. Das sah ich alles, mich interessierte aber einzig und allein die große, schwarze, schnaufende und stampfende Lokomotive.
Für meine Begleiterinnen muss es schlimm gewesen sein, denn seit ich denken kann, war das so: Ich entdeckte die Dampfwolke und die Erwachsenen mussten mit mir zur Bahnschranke und zum Bahnhof gehen, manchmal sogar rennen. Das war jedes Mal wieder das gleiche Spiel, Theater, Drama, egal, das war so, immer! Und da gab´s auch keine Ausnahme. Opa und seine Freunde fanden das amüsant, aber völlig normal, denn es ließ sich einfach erklären: Ich war eben die Enkelin eines pensionierten Eisenbahners.
Vermutlich kannten alle den Fahrplan des Zuges genau und sie gingen erst mit mir los, wenn er bereits durchgefahren war. So hätte ich das sicherlich gemacht, um diesem Spektakel aus dem Wege zu gehen.
In der Nähe der Bahnschranke war ein Hotel und in dem Garten befand sich ein Truthahn. Er hatte einen - wie ich fand - hässlichen, rot-blauen Kopf und blubberte oft unentwegt vor sich hin. Da ich schon einmal da unten am Bahnhof war, musste ich das Federvieh auch noch bewundern und dann war es gut und wir konnten wieder weitergehen.
12.01.2022 p
26.4 und 26.5 wurden am 21.01.2022 vertauscht, korrigiert und ergänzt.
26.6 Die Mühle
Die Mühle stand am Mühlgraben, der vom Bach abgezweigt war. Sie war also eine Wassermühle und in ihr wurde vornehmlich Getreide gemahlen. Sehr gerne ging ich mit Opa zu seinem Freund Franz, dem Müller. Dort war ich immer willkommen. Im Sommer, an schönen, warmen Tagen, stand oft auf der sehr breiten Fensterbank eine Schale mit dicker Milch, allein für mich. Über Kornsäcke hinweg kletterte ich dann dahin. „Hmmm, lecker!“ Und schwuppdiwupp war die Schale leer.
Die Fensterbank war so breit, dass ich bequem auf ihr in der Fensternische sitzen konnte. Die Mühle hatte sehr dicke Steinwände.
Schaute ich aus dem Fenster hinaus, konnte ich von oben auf das große Mühlrad sehen und zuschauen, wie das Wasser über das Rad rauschte und es so bewegte. Dieses Mühlrad war aus Holz und sehr groß. Es hatte Kästen, in die das Wasser von oben hineinströmte und es auf diese Weise antrieb. Es war ein lautes Getöse und noch im Haus zu hören und zu spüren. Über eine Welle wurde die Wasserkraft ins Mühlenhaus übertragen.
Ging man in die Mühle hinein, war links oben über eine kurze Treppe das Mahlwerk mit dem Einfüllkasten für das Korn zu erreichen. Die Mühlsteine konnte ich nicht sehen. Ich wusste aber, wie sie aussahen, denn draußen vor der Tür standen einige. Meistens wurde Roggen, aber auch Hafer und Gerste gemahlen, ganz selten Weizen, denn der gedieh bei dem rauen Wetter in dieser Gegend nicht so gut. In diesem kleinen Raum war es sehr laut. Man konnte oft sein eigenes Wort nicht mehr verstehen, so ein lautes Klappern war da, irre! In diesem Raum standen auch ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Schrank und hinter einem Vorhang ein Bett für den Müllergesellen oder auch den -knecht.
Ging man wieder hinunter und weiter und über eine zweite Treppe nach unten, dann war man in einem großen Raum unter dem Mahlwerk. Hier kam auch die Welle von dem Wasserrad draußen an. Dort unten waren riesige Räder aus Holz, über die liefen breite Bänder aus dunklem, dickem Leder, das waren die Transmissionsriemen. Je nach Mahlvorgang wurden sie vom Müller und seinen Gehilfen mit Hebeln von einem auf das andere Rad gewuchtet. Es kam vor, dass ein Lederband von einem der Holzräder absprang oder sogar riss, dann musste schnell gehandelt werden, damit ohne größere Unterbrechung weiter gemahlen werden konnte. Opa wurde auch geholt, um mitzuhelfen. Starke Männer hievten dann mit langen Stangen und Haken den geflickten, schweren Transmissionsriemen auf das Rädersystem und die Mühle klapperte wieder und mahlte weiter das Korn zu Mehl. Ich war gern dabei und fand das alles sehr spannend.
Da es hier aber sehr gefährlich war, weil ich mit meinen langen Zöpfen oder mit meinem Kleid in die Transmissionen geraten könnte, durfte ich in diesen Raum mit den Transmissionen nur mit Opa zusammen gehen. - Mitte der 50er Jahre wurde diese Wassermühle aufgegeben.
21.01.2022 p
26.7 Es war laut!
In der Stadt war es laut. Uns gegenüber war ein Bauernhof und auf der Rückseite des Hauses hörte man die Fahrzeuge auf der Hauptstraße. Die Pferdewagen hatten eisenbereifte Räder und die Pferde trappelten auf dem Straßenpflaster, das war laut. Autos waren noch selten. Gelegentlich rollten Panzer durch die Stadt. Flugzeuge, wenn sie manchmal die Stadt überflogen, waren sehr laut, es war fast wie Donner. Der Zug mit seiner Lokomotive war hoch interessant für mich. Er war laut, was für mich jedoch ohne Belang war.
Es gab viel Gehämmer und Geklopfe. Mitten in der Stadt waren laute Handwerksbetriebe, wie der Hufschmied, der Stellmacher und der Metzger. Wenn Tiere transportiert werden sollten, war das Quieken und Brüllen der Tiere, die um ihr Leben bangten, furchtbar für mich. Auch Hunde kläfften, Hähne krähten, Hühner gackerten …. Es war laut! Manches war aber auch interessant, wenn z. B. der Bierwagen kam, mit den geschmückten Rössern - schön anzuschauen - dann gab es für mich kein halten mehr, ich musste dahin und gucken, wie die Fässer vom Wagen auf ein pralles Lederkissen plumpsten und über eine hölzerne Rampe in den Bierkeller rollten.
Nachts war es ruhig.
30.03.2022 p
27. Körper und Gesundheitspflege
27.1 Sonnabend ist Badetag
Jeden Sonnabend wurde inmitten unserer Wohnküche eine Zinkwanne gestellt und auf dem Küchenherd in einem großen Topf Wasser zum Kochen gebracht. Manchmal wurden ein paar getrocknete Kamillen-, Thymianblüten oder Teeblätter in kleine Beutelchen gefüllt und in das heiße Badewasser gehängt oder die dunkelrote Flüssigkeit vom „Onkel“ Doktor wurde hineingegossen und das Wasser färbte sich blutrot. Mit kaltem Wasser wurde das ganze vermischt und auf die richtige Temperatur gebracht, dann wurde ich gebadet. Mit Kernseife wurde ich eingeseift und mit einem alten, zerschlissenen Stück von einem Frotteehandtuch abgerubbelt. Als ich klein war, mochte ich das gar nicht, später aber - so mit etwa fünf oder sechs Jahren - machte mir das sogar Spaß. Von irgendjemandem hatte ich in frühen Jahren eine kleine, weiße Schwimmente aus sehr hartem Plastik bekommen. Als diese später weg war, habe ich sie nicht vermisst. Wie Oma, Opa und Tante Mariechen gebadet haben, weiß ich nicht, das habe ich nie mitbekommen.
Das gebrauchte Badewasser wurde natürlich nicht nur einfach weg geschüttet, sondern noch zum Wischen des Fußbodens - einfache Holzdielen - in Küche, Flur und Abort genutzt. Alles wurde gespart, auch Wasser.
Mutter ging, wenn sie manchmal da war, regelmäßig zum Baden in die Volksschule. In deren Kellerräumen standen Wannen. Arme Leute aus der Stadt, die so wie wir kein Badezimmer hatten, konnten dort - für wenig Geld - ein warmes Vollbad nehmen.
Eine extra Prozedur war das Waschen meiner langen Haare. Ich war der Ansicht, dass meine Haare sauber seien und nicht so oft gewaschen werden müssten. Denn nach der Haarwäsche wurden die nassen Haare gekämmt und das war schlimm, da sie durch das Waschen zerzaust waren. Das Auskämmen tat weh, auch wenn es sehr behutsam gemacht wurde; Oma tat das hauptsächlich, sie hatte eine Engelsgeduld. Dann mussten meine langen Haare an der Luft trocknen, wir hatten keinen Fön. Im Sommer, wenn es schön warm war, ging es ja, aber im Winter musste ich lange in der Küche in der Nähe des Herdes bleiben.
27.2 Tägliche „Katzenwäsche“
Jeden Morgen wuschen sich alle nacheinander in der Küche am Ausguss, das war der einzige Wasserhahn in unserer Wohnung. Als letzte war ich dran, mit der „Katzenwäsche“: Hände, Gesicht, Hals und wo es noch weiter notwendig schien. Das Wasser war sehr kalt und Wasser wurde wie gesagt gespart.
Abends gab´s nochmal „Katzenwäsche“. Es wurde nur gewaschen, was dreckig war. Bei mir waren es hauptsächlich die Hände, das Gesicht und im Sommer auch die Füße. Wenn ich mal wieder mit anderen Kindern in der Gosse mit dem Matsch gespielt hatte, waren auch die Arme dreckig und mussten gründlich abgeseift und gewaschen werden. Mutter war gegen das Spielen in der Gosse. Ich bekam Schimpfe, Verbote und sogar Prügel, wenn ich mich widersetzt hatte. Es half alles nichts, kaum war ich draußen, war ich schon wieder mit den Händen im Dreck.
27.3 Läuse
Beim Spielen mit den Kindern draußen, hatte ich mir Läuse eingefangen. Da ich mich kratzte, wurde sofort auf meinem Kopf nachgeschaut. Oh, ja, da sind welche und Nissen sind auch schon da. Jetzt aber schnell, jetzt muss gehandelt werden. Oma vor allen nahm die Sache in die Hand. Meine Zöpfe wurden aufgeflochten. Der Wandspiegel, der über dem Ausguss hing, wurde abgehängt und auf den Küchentisch gelegt und ich musste mich weit über Tisch und Spiegel beugen. Nun wurden die Haare gekämmt. Zuerst mit dem normalen Kamm und dann mit einem „Staubkamm“, dessen Zähne standen ganz dicht beieinander und er war doppelseitig. Und das alles fand über dem Tisch und dem darauf liegenden Spiegel statt, so dass, wenn Läuse aus meinem Haar herausfielen, sie nicht übersehen werden konnten und sofort getötet wurden. Die Nissen mussten auch gefunden und vernichtet werden. Das Kämmen zog an den Haaren und war für mich nicht lustig und tat auch manchmal weh. Um mich bei Laune zu halten und diese Prozedur für mich interessant zu gestalten, erzeugten sie jeweils mit ihren Fingernägeln ein Klickgeräusch, wenn sie eine Nisse zerquetscht hatten. Danach durfte ich meistens längere Zeit nicht nach draußen gehen, um mit den anderen Kindern zu spielen; vielleicht bis alle keine Läuse mehr hatten.
27.4 Milchzähne
Nacheinander wurden meine Zähne locker, manche fielen von alleine heraus, aber nicht alle. Die Schneidezähne wackelten, blieben jedoch. Die Zähne müssten aber raus, sonst könnten die neuen nicht ungehindert nachwachsen, hieß es. Was nun? Opa wusste Rat. Ich musste mich in Türnähe auf einen Stuhl setzen und gut anlehnen und ruhig sitzen bleiben. Dann wurde zunächst um einen der wackligen Zähne eine Schlinge eines langen, weißen Sternchengarnfadens gelegt. Den Faden befestigte Opa dann an die Türklinke der offenstehenden Tür und schlug die Tür mit voller Wucht zu. Ein kurzer Schmerz, der Zahn war draußen. Oma kam mit einer desinfizierenden Tinktur und drückte leicht meinen Gaumen, um die entstandene kleine Wunde herum zusammen. Da das Zahnziehen so mit mir möglich war, wurden auch auf die gleiche Art die nächsten lockeren Zähne, die nicht von allein ausfielen, rausgezogen. Die Zähne wurden erst einmal aufbewahrt. Es waren „Mäusezähne“ und irgendwann sollte ich sie aber in ein Mauseloch stecken.
27.5 Messen an der Türzarge
Ich wuchs schnell und Opa kontrollierte das. Dazu musste ich mich ganz gerade an die Türzarge stellen. Meine Fersen mussten hinten angestellt und mein Kopf angelehnt sein. Auf meinen Kopf legte Opa ein Frühstücksbrettchen, ganz gerade, waagerecht. Von unten unter dem Brettchen zeichnete er mit einem Zimmermannsbleistift an der Türzarge einen gut sichtbaren Strich. Und diese Kontrolle wiederholte Opa etwa alle paar Monate. An Hand der vielen Striche konnte jeder mein rasches Wachstum verfolgen, natürlich auch ich. Opa legte den Zollstock an und maß nach. Und so wusste ich bald auch, wie groß ich war, in Zentimetern genau.
Gelegentlich besuchte uns eine freundliche Frau von einem Amt - vielleicht vom Gesundheitsamt, kann aber auch vom Jugendamt gewesen sein. Sie fragte nach mir und ich wurde genau angeschaut. Die Frau war zufrieden und ging. Das kam immer mal wieder vor.
27.6 Der Abort
Nur in der Küche hatten wir fließendes, kaltes Wasser, nämlich einen Wasserhahn über einem Ausguss, wie bereits erwähnt. Am Ende unseres Flurs, rechts neben der Küche war der Abort. Hier war kein Wasseranschluss, also kein fließendes Wasser, es war daher kein Klosett. Als ich klein war, durfte ich da nie hin. Ich wurde einfach aufs Töpfchen gesetzt. Alle passten sehr auf, dass die Tür zum Abort geschlossen blieb, aus verschiedenen Gründen, in der Hauptsache jedoch wegen meiner, weil befürchtet wurde, ich könne da hinein plumpsen. Für mich war dieser Ort irgendwann, als ich älter war, untersuchenswert. Es war ein kleiner Anbau und ragte in das Brandschutzgässchen und hatte auch ein ganz kleines Fenster, das sich öffnen ließ. Die Hälfte des Raumes war von einer Sitzfläche aus Holz ausgefüllt, es war eher so etwas wie ein hölzerner Kasten. Oben war ein großes Loch und dafür gab es einen sehr gut eingepassten, hölzernen Deckel. Setzte man sich über das offene Loch und erledigte sein Geschäft, fiel alles direkt einige Meter tief nach unten in eine Grube. Entsprechend unangenehm waren die Gerüche, ist ja klar! Hier hielt sich niemand länger als nötig auf. Opa übernahm die Pflege dieses Örtchens. Er sorgte für ausreichend Papierblättchen. Aus alten Zeitungen schnitt er Blättchen und fädelte sie auf ein Stückchen stabile Schnur und hängte das an einen Nagel, darüber auf der Wand stand mit großen, schön geschwungenen, dunklen Lettern „Für den Allerwertesten“.
Im Sommer streute Opa manchmal gemahlenen Kalk gegen den großen Gestank in das Loch und verschloss es schnell wieder mit dem hölzernen Deckel.
Im tiefen Winter, wenn die Temperaturen weit unter Null lagen, fror die Wasserleitung zur Küche auch schon mal ein. Auf dem Örtchen konnte es dann auch Probleme geben, die mit dem Hausbesitzer zusammen zu lösen waren. Die Wasserleitung war zwar mit Lumpen umwickelt, wo sie zu erreichen war und Opa besserte im Herbst bereits diese Art von Isolierung mit weiteren Lumpen aus. Trotzdem aber fror die Leitung bei strengem Frost ein. Wie wir dann an Wasser kamen und wie das Problem gelöst wurde, weiß ich im Einzelnen nicht mehr. Den Abort konnten wir bei strengem Frost auch nicht benutzen, für die Zeit wurde der Nachttopf gebraucht und in der Jauchegrube entsorgt. Diese Zeit war - Gott sei Dank - kurz.
27.7 Der Spucknapf
Hygiene und Gesundheitsvorsorge waren bei Oma, Opa und Tante Mariechen groß geschrieben. Vieles basierte auf Erfahrungen, aber auch aus spärlicher Literatur zu Pflanzen- und Heilkunde und aus Zeitschriften, wie „Die Gartenlaube“.
So stank es bei uns häufig nach Kampfer, ein Mittel vermutlich für Wundbehandlung, gegen Herzschwäche und Rheumatismus.
Aber jetzt zum eigentlichen Thema: An die Betten der Drei wurde abends immer je ein mit Wasser gefüllter, grauemaillierter Henkelbecher gestellt. Diese Becher unterschieden sich in Nuancen und ließen sich daher ziemlich sicher zuordnen, hatten sie doch eine wichtige Funktion, vor allem in den kühlen bzw. kalten Monaten, vom Herbst bis zum späten Frühling. Am Tag wurde oft genießt, geschnupft und gehustet und zwar manchmal arg bedrohlich. Der Schleim im Hals musste als Auswurf ausgespuckt werden und man spuckte in den Ausguss oder ins Klosett.
Für die Nacht standen diese besagten mit etwas Wasser gefüllten Becher an den Betten bereit. Morgens wurden sie dann ausgeleert, ausgespült und vormittags - als Hygienemaßnahme - mit fast kochendem Wasser nachgespült. Dazu diente Kartoffelwasser oder ähnliches; Wasser, das sowieso weggeschüttet werden musste.
Mit heißem Wasser wurde sehr sparsam umgegangen, da es mühevoll war, Wasser auf dem Küchenherd mit Holz und Kohlen aufzuheizen, obschon bei uns auf dem Herd fast immer ein großer Wasserkessel vor sich hin summte, vor allem im Winter.
09.09.2023 p
27.8 Neue Kleidung für die Schule
Der Winter war fast zu Ende und ich bekam einen neuen, blauschwarzen Mantel mit großen weißen Knöpfen von Quelle. Die Kataloge des Versandhauses Quelle kannte ich größtenteils schon; aus ihnen hatte ich bereits viele Figuren sehr präzise ausgeschnitten. Der neue Mantel war schon fast zu eng und zu kurz, als er ankam, auch die Ärmel waren kurz. Aber was soll´s, den anderen beschädigten Mantel mochte ich ja nicht mehr und nun war der neue da und ich brauchte einen Mantel, denn es war draußen oft noch sehr kalt.
Ich hatte auch eine neue Mütze bekommen, eine „Teufelsmütze“, so wurde sie genannt. Die gefiel mir überhaupt nicht, aber was sollte ich machen. Die meiste Zeit verschwand diese Mütze in meiner Tasche. Irgendwann hatte Oma Erbarmen und strickte mir eine neue „Bommelmütze“, die ich sehr liebte.
Ein buntes Kleid hatte Mutter mir genäht und eine helle Schürze aus Nessel bekam ich von Tante Mariechen. Beides gefiel mir und ich zog Kleid und Schürze gerne an.
Auch neue Schuhe wurden für mich gekauft und das war toll. Zum einen bekam ich dann eine kleine Elefantenbrosche und die gefiel mir, davon hatte ich schon ein paar. Aber in dem Schuhgeschäft war noch etwas was mich anzog und das war ein Durchleuchtungsapparat, Da hinein konnte ich meine Füße stecken und dann konnte ich die Knochen im eigenen Fuß sehen, was man so ja nicht kann. Und auch ob die Füße in den Schuhen genügend Platz hatten. In dieses Geschäft ging ich äußerst gern und manchmal auch heimlich und steckte klammheimlich die Füße in den Apparat. Irgendwann erklärten mir die Frauen dort, dass das gefährlich sei, wenn man das so oft wie ich macht. Ich bekam Angst, fragte Oma und Opa und tat das dann nicht mehr, denn ich war eigentlich ein vernünftiges, braves Mädchen.
29.01.2022 p
28. Josi plaudert aus ihrer Volksschulzeit
28.1 Nun bin ich ein Schulkind
Ich bekam einen Schultornister aus dickem, braunem Leder, sehr schwer und strapazierfähig. Und eine Tafel, das war eine Schieferplatte - mit speziellen Schreiblinien auf der einen und Rechenkästchen auf der anderen Seite - in einem Holzrahmen. Durch ein Loch im Rahmen war ein Band, mit einem Schwamm und bunten Tafelläppchen an je einem Ende, gezogen. Auch ein Bleistiftkasten aus Holz, in dem der Griffel war, gehörte zu meiner Erstausstattung, für meinen ersten Schultag. Und jetzt ging´s los!
Endlich kam ich in die Schule, einem großen Haus, dass ich schon von außen kannte. Mehrere Wege dorthin kannte ich auch. Ich ging nicht allein zur Einschulung in diese Volksschule, aber wer mich dorthin begleitet hatte, weiß ich nicht mehr. Genauso wenig kann ich mich noch an meinen ersten Schultag erinnern. Nur eins glaube ich noch zu wissen: Er war nach Ostern, Mitte April, 1950.
Wir alle waren Mädchen. Ich erinnere mich nur noch dunkel daran, dass jede von uns eine Brezel bekam und dass dieser erste Schultag mit dem Aufstellen auf der Schultreppe für ein Klassenfoto endete. Einige von uns Mädchen hatten große Schultüten, ich nicht, dafür hatten wir kein Geld. Die Erstausstattung mit dem Schultornister war schon teuer genug, außerdem brauchte ich Kleidung und Schuhe. Irgendwann bekam ich auch ein Schreibheft mit vorgedruckten, speziellen Linien, wie auf der Tafel und ein Rechenheft mit vorgedruckten Kästchen, darin schrieb ich mit dem Bleistift. Bald hatte ich auch ein Lesebuch ….
Opa übte mit mir das Lesen. Es war für beide nicht leicht. Ich las Buchstabe für Buchstabe. Geduld war angesagt, aber nicht immer vorhanden. Im Lesen und Schreiben war ich schlecht, ich konnte es nicht, dafür aber konnte ich gut rechnen, sogar sehr gut.
28.2 Wo sind die Mädchen aus dem Nachbarhaus?
Die beiden Mädchen aus dem Nachbarhaus, die mir früher aus ihrer Fibel etwas vorgelesen hatten, sah ich in dieser Volksschule nie, aber sie waren auch da.
Dass ich sie da aber nie sah, das hatte einen Grund, den ich etwas später erfuhr. Diese Mädchen waren evangelisch und ich war katholisch und das passte nicht zusammen. Wir waren nicht nur von den Jungs in dieser Volksschule getrennt, die hatten in der anderen Hälfte des Schulgebäudes ihre Klassenzimmer und ihren Pausenhof auf der Rückseite des Gebäudes, nein, diese Trennung zwischen den evangelischen und katholischen Mädchen in unserem Gebäudetrakt war viel strikter. Die evangelischen Mädchen waren im Keller und da kam ich nie hin und sie hatten ganz andere Pausen als wir und überhaupt völlig andere Schulzeiten und ich nahm dse gar nicht wahr, jedenfalls nicht hier an dieser Volksschule. Diese Trennung war gewollt, wurde gefordert und von den meisten befolgt, auch von mir.
Mit evangelischen Leuten hatte man möglichst nichts zu tun und um deren Kirche machte ich immer einen großen Bogen, die hatte ich nie von innen gesehen. - Die evangelischen Nachbarsmädchen waren auch bald „aus den Augen aus dem Sinn“, sprich vergessen.
28.3 Die Brille
Nach ein paar Monaten, noch im 1. Schuljahr, wurde meine große Sehschwäche erkannt und ich musste eine Brille tragen, täglich und immer. Nur zum Schlafen konnte ich sie absetzen. Das war schlimm für mich, denn sie war sehr hinderlich beim Rennen, Überschläge machen und Purzelbäume schlagen. Sie war einfach dooof!!
Die Brillengläser waren sehr dick und schwer und steckten in einem Drahtgestell. Alles war so schwer, dass nach kurzer Zeit an beiden Seiten meiner Nasenwurzel tiefe Dellen eingedrückt waren, die schmerzten. Oft saß die Brille auch noch schief auf meiner Nase, weil sich wieder etwas verstellt hatte. Schrecklich!
Und dann gab es da noch böse Kinder, die riefen mir manches nach: „Brillenschlange“ oder „da kommt die Blöde mit dem Nasenfahrrad“ oder „Geh weg, du bist doof, du darfst nicht mit uns spielen“.
Manchmal war mir alles zu viel und ich rannte heulend nach Hause.
Im Sommer war ich ja viel im Garten am Bach in der Nähe der Mühle. Dort war alles schnell wieder vergessen. Im Winter war ich auf der Synagoge zusammen mit den Katzen. Sie waren so weich und warm und anschmiegsam. Da fühlte ich mich immer wohl.
Meine Volksschulzeit war unaufgeregt. Heimatkunde war ein schönes Fach und ich lernte da viel. Rechnen war auch gut, damit war ich schnell fertig.
Religion war manchmal gut, aber selten; manches fand ich unheimlich, manches machte mir sogar Angst. Ich erinnere mich noch an einen Spruch des Stadtkaplans: „Die Höllenuhr schlägt immer nimmer, immer nimmer …“, vermutlich ging es um irgendwelche Todsünden, was weiß ich.
Die Schule wurde von dem Rektor, also einem Mann, geleitet. Meine Klassenlehrerinnen und die anderen Lehrerinnen während meiner vier Volksschuljahre waren „Fräuleins“.
28.4 Spenden der Amerikaner
Über diese gesamten vier Jahre in der Volksschule fallen mir nur einige wenige besondere Begebenheiten ein.
Es kann sein, dass ich bereits in der zweiten Klasse war, so genau weiß ich das nicht mehr. Wir saßen alle auf unseren Plätzen in unserem Klassenzimmer, als plötzlich zwei amerikanische Soldaten herein kamen und kurz mit Fräulein K., unserer Klassenlehrerin, leise sprachen.
Einer der Soldathen deutete auf Elsbeth, meine Schulfreundin. Fräulein K. aber schüttelte den Kopf und wies auf mich. Ich musste also nach vorne kommen, zu den beiden Soldaten und die hatten etwas mitgebracht. Einer von ihnen nahm einen Zwieback, tunkte ihn in ein braunbeiges Pulver und reichte ihn mir zum Probieren. „Hmmm, das ist lecker“, ich strahlte vor Begeisterung. Was dann an dem Tag weiter geschah, habe ich vergessen.
In nächster Zeit bekamen bedürftige Kinder - so wie ich - mehrmals Lebensmittel geschenkt, für ihre Familie zu Hause. Es waren Zwieback, Zucker, Maismehl, Kakao, Corned Beef, Cheddarkäse, Margarine, Bohnen, Erbsen oder Linsen …. Natürlich gab es nicht alles auf einmal, sondern bei jedem Mal nur einige dieser Nahrungsmittel und die nächsten Male wieder andere. Die Sachen trug ich dann in einem Beutel nach Hause. Manchmal kam mir jemand entgegen, um mir tragen zu helfen, denn das war Oma und Opa offenbar bekannt, wann ich etwas bekam.
Über das Corned Beef in einer Dose und das Stück amerikanischen Käse freuten sich alle besonders und Oma schlug den Käse sofort in ein mit Salzlake getränktes Tuch ein, damit er noch längere Zeit haltbar und frisch blieb, denn er wurde eingeteilt und es gab zu den Mahlzeiten für jeden von uns immer nur ein dünnes Scheibchen davon zu essen.
Manchmal musste ich einen Henkelmann zur Schule mitnehmen, denn dann gab es Schulspeisung. Auf der einen Seite unseres Schulhofs standen amerikanische Soldaten hinter einem großen Topf voll heißer Suppe. Wir Mädchen standen in einer langen Schlange davor. Mit einer riesigen Schöpfkelle füllte dann einer der Soldaten auch meinen Henkelmann und ich lief sofort mit der Suppe nach Hause. Als ich ankam, war sie noch schön warm. Jedes Mal schmeckte sie gut und es reichte fast für uns alle. Oft gab´s dann noch Kartoffeln dazu, damit wirklich alle satt werden konnten.
Über die Lebensmittelspenden und die Schulspeisung der Amis herrschten Freude und Dankbarkeit bei uns zu Hause. Wie viele Male und über welchen Zeitraum sich diese Spenden erstreckten, weiß ich absolut nicht mehr.
05.02.2022 p
28.5 Amerikanische Soldaten in der Stadt
Schon wieder großes Gerassel auf der Hauptstraße. Die Panzer!
Alles lief hin, manchmal auch ich, nur um zu gucken.
Die Panzer fuhren wieder durch die Stadt, jedoch wesentlich leiser als früher.
Der Bürgermeister, einige Stadtväter und Bürger hatten erreicht, dass die Amerikaner nicht mehr mit den Stahlketten über die Straßen rollten, sondern dass sie auf die Ketten Gummipolster montiert hatten, um die Straßen zu schonen. Vorher mussten die Straßen häufiger ausgebessert werden, was nicht nur mühsam, sondern auch teuer war. Davon erfuhr ich natürlich erst später.
Manchmal flog etwas oben aus der Luke eines Panzers heraus, z. B. Kaugummi, kleine Schokoladentafeln, ... Ich durfte nichts, gar nichts vom Boden aufheben und essen oder von Leuten, die ich nicht kannte, annehmen. Es war mir strengstens verboten, irgendetwas von jemandem, den ich nicht kannte, anzunehmen, schon gar nicht auf offener Straße. Ich durfte auch niemandem, den ich nicht kannte, die Hand geben, gerade auch nicht, wenn ich alleine war. Ich sollte, wenn ich von Fremden angesprochen werde, nichts sagen, mich sofort umdrehen und so schnell ich konnte weglaufen. Bereits als kleines Mädchen wurde mir dies eingebläut. Und als ich zur Schule ging auch immer wieder. Wenn Mutter nicht da war und manchmal ein Brief von ihr ankam, stand drin, dass Oma und Opa sehr auf mich aufpassen sollten, weil Kinder nicht selten entführt würden. Sie sollten mir das energisch klar machen. Das taten sie, auch Tante Mariechen erzählte mir schreckliche Dinge. Ich ging nirgends hin, auch nicht, als ich schon älter war und wir nicht mehr in der Marktstraße, sondern weit draußen außerhalb der Stadt wohnten. Und zum Militärcamp, oben am Wald, ging ich „als anständiges Mädchen“ sowieso nicht.
28.6 Schon wieder Läuse
In unserer Klasse wurde Läusebefall festgestellt. Wir mussten alle ein paar Tage zu Hause bleiben. Diesmal aber war es nicht lustig für mich. Ich musste eine unangenehme Prozedur über mich ergehen lassen.
Also wie schon einige Male früher: Die offenen Haare wurden über dem Spiegel mit einem Staubkamm ausgekämmt, danach gründlich gewaschen und wieder gekämmt.
Dann aber wurde eine Paste auf meinen Kopf geschmiert und der Kopf und alle Haare mit einem großen Tuch zugewickelt. Und so musste ich ewig lange da sitzen oder mich nur ganz vorsichtig bewegen, damit mein Haar unter dem Tuch blieb.
Die Kleider wurden ebenfalls sehr genau inspiziert, alle Nähte wurden untersucht und ausgekratzt. Was nicht gewaschen werden konnte, wurde zusätzlich mit stinkenden Mitteln behandelt. Es war fürchterlich.
Was sie im Einzelnen alles gemacht haben, habe ich vergessen. Irgendwann - nach Tagen - konnte ich wieder in die Schule gehen und war heil froh darüber.
13.02.2022 p
28.7 Fronleichnamsprozession
Ich war vielleicht sieben Jahre alt und ging dieses Mal nicht in Begleitung von Oma oder Mutter oder Tante Mariechen mit der Prozession, sondern in der Reihe meiner Schulklasse. Alles war herrlich geschmückt. Auf den Straßen lagen Blumenteppiche. Altäre waren errichtet. Kleine Birken säumten den Prozessionsweg. Es war so schön, es war warm und ich trug mein „Sonntagskleid“. Dieses Mal hatte ich kein Blumenkörbchen mit kleinen Blumen zum Streuen, nein, ich hatte etwas, was mir unglaublich gut gefiel. Von den Leuten aus dem Haus nebenan hatte ich nämlich einen wunderschönen, großen Blumenstrauß bekommen. Ich glaube, es waren Pfingstrosen. Nun ging ich schon einige Zeit zusammen mit den anderen Mädchen betend und singend durch die Straßen der Stadt und hatte immer noch den großen Strauß in meinen Händen. Da griffen Leute ein, ich sollte auch Blütenblätter streuen. Ich wollte das nicht, ich wollte diese wunderbaren, dunkelroten Blumen nicht zerreißen. Alle um mich herum wurden immer fordernder, meine Klassenlehrerin Fräulein K. auch. Sie rissen an den Blumen herum, um mir zu zeigen, wie Streuen geht. In der Hand hielt ich nur noch zwei, drei unversehrte Blumen, schüttelte leicht mit dem Kopf während meine Tränen liefen. Irgendjemand fragte mich: „Warum willst du denn nicht streuen, so wie die anderen Kinder auch?“ Ob ich antwortete, weiß ich nicht. Ich galt da als „stur“ und „dickköpfig“, an diese Worte kann ich mich noch erinnern. Still vor mich hin weinend, ging ich die letzte Strecke mit. Als ich nach der Prozession zu Hause ankam, schaute man in mein trauriges Gesicht.
Oma erkannte die Situation und verstand mich sofort. Sie holte eine Vase und stellte die paar Blumen, die ich mitgebracht hatte, hinein und ich trug sie zu unserem kleinen Hausaltar, denn dafür hatte ich den Strauß von Anfang an vorgesehen. Durch die Prozession wurde er geweiht, so hoffte ich. Diese schönen Blumen wollte ich nicht zerreißen und auf die Straße werfen, darin konnte ich keinen Sinn erkennen.
Diese Prozession - von all den Prozessionen, die ich während meiner Schulzeit mitgemacht hatte - blieb mir in unangenehmster Erinnerung haften.
19.02.2022 p