29. Fragen über Fragen
29.1 „Schnittmuster“ - oder was?
„Kuck mal hier, was ich gefunden habe, Oma! Nähst Du mir ein schönes Kleid? Wir können doch eins aussuchen.“ „Aussuchen, nein, das geht nicht, das sind keine Schnittmuster, die sehen nur so aus.“ „Was ist das denn?“ „Ach, ja, willst du das wirklich wissen? Wie soll ich dir das erklären? Deine Mutter kann das besser, frag sie“, Oma seufzt tief. „Mutter ist aber nicht hier und du hast gesagt, sie kommt auch nicht.“ „Ach, lass gut sein, Kind, ich erkläre dir das vielleicht später einmal, wenn ich mehr Zeit habe.“
Deutlich spürte ich, dass da etwas nicht stimmte, ich sollte nicht so viel fragen. Ich vergaß das aber nicht und bohrte Tage, vielleicht Wochen später weiter, denn das ließ mich nicht los. Ich war immer schon sehr neugierig. - Es half aber nichts.
29.2 Die seltsame „Geheimsprache“
Die hatten Geheimnisse. Jedes Mal wenn Oma, Opa und Tante Mariechen sich unterhielten oder ein Brief kam oder es zwischen ihnen auch mal lauter wurde und sie merkten, dass ich zuhörte, redeten sie ein „Kauderwelsch“ und ich verstand nichts mehr, kein einziges Wort. Doch, manchmal hörte ich Namen, im Laufe der Zeit viele Namen, die sich immer wiederholten: Heydekrug, Schwarzort, Cranz, Memel, Berlin, Schilgallen, ???, Kibitzhörn, Ruß, Rauschen, Königsberg, Tilsit, Pogegen, München, Schönwalde, …, Agnes, Betty, Marthchen, Franz, Klara, Olga, Pfarrer Thiel, Marta, Rupert Mayer, Rosalie, Tullchen, .... Und das war, seit dem Tante Mariechen bei uns wohnte. Mutter - wenn sie überhaupt mal da war - verstand genau so wenig wie ich, worüber die Drei sich unterhielten. Das war gemein!
Jahre später erfuhr ich, wie diese Geheimsprache hieß und bekam auch ein Buch gezeigt: Ermländisches Gesangbuch. Es war zweisprachig auf Deutsch und auf Litauisch. Also, das war´s, die Drei redeten Litauisch.
29.3 „Nie wieder Krieg“
Auf unserem Küchentisch hatte ich ein Buch entdeckt. Dieses Buch war nicht so groß, wie die anderen alten Bücher, die wir hatten und aus denen manchmal - Samstag abends oder am Sonntag - Opa oder auch Oma vorlasen. Ein bisschen lesen konnte ich schon, aber nicht gut. Langsam begann ich vor mich hin zu buchstabieren: „N I E W I E D E R K R I E G“
„Was ist Krieg?“
Ich erfuhr, dass das was ganz Böses ist. Menschen bringen andere Menschen um, weil sie „deren Hab und Gut“ haben wollen. Soldaten dringen in fremde Länder ein und töten, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie nehmen den Menschen dann alles, was sie haben, weg oder machen es kaputt.
„Wir hatten Krieg. Du bist in einem schlimmen Krieg geboren. Es fielen viele Bomben. Die meisten Sachen, die du und deine Eltern hatten, sind zertrümmert, also nicht mehr da. Viele mussten machen, was die Soldaten wollten, manche konnten aber noch weg laufen, das heißt `flüchten´. Auch Klärchen, Walter, Bruno, Oma Rosalie, Tante Agnes und TANTE MARIECHEN sind geflüchtet“, erklärte Oma. „Und daher sagen viele Leute, wie auch wir: `Nie wieder Krieg´“.
29.4 Zeichen im Handtuchhalter
Vielleicht war ich fünf oder gar sechs Jahre alt, auf keinen Fall jedoch war ich schon in der Schule. Oma und ich waren allein in der Küche. Durch das Fenster fiel ein Sonnenstrahl auf einen kleinen Handtuchhalter an der gegenüberliegenden Wand, an dem einige Küchentücher hingen. Ich stand vor diesem Handtuchhalter, betrachtete ihn eingehend und entdeckte darin ein Zeichen. „Was ist das“, fragte ich, indem ich darauf deutete. Oma schaute mich sehr ernst an. Ich dachte, ich hätte was falsch gemacht. Dann brachen die Worte aus ihr heraus, eine Menge Worte. Nur weniges davon habe ich behalten. Sinngemäß etwa dies: `Das ist das Zeichen der Nazis. Wir brauchten keinen Halter, wir haben ja den anderen noch von früher, aus Dortmund. Ich musste das Ding aber kaufen, denn die in Berlin brauchten viel Geld für ihre Kriege. Allerlei wurde angeboten. Wenn man nichts kaufen wollte, drohten sie einen anzuzeigen. Wie das dann geendet wäre, weiß ich nicht. Oft drohten die jungen Burschen, in schnieken Uniformen, die diesen Tingeltangel den Leuten anboten, mit Lagerarbeit oder anderen schweren Strafen. Also habe ich das Teil widerwillig und aus Angst und um den Kerl, der mir das anbot, los zu werden, genommen. Es war das Kleinste und das Billigste, was der Nazi angeboten hatte. Er bekam einige Groschen und zog knurrend ab. Ja, so war´s!´
Es folgten - nach und nach - lange Abhandlungen über die schreckliche Zeit, die gerade hinter uns lag. Darüber aber später und in anderen Zusammenhängen.
Dieser kleine Handtuchhalter, eine Laubsägearbeit aus Holz mit Hakenkreuz fand kaum Beachtung, bis er uns - noch kurz vor unserem Auszug aus der Notwohnung, Anfang der ´50er Jahre - als Anmachholz für das Feuer in unserem Küchenherd diente, damit es in unserer Küche schön warm wurde.
24.02.2022 p
29.5 Was war mit Mutter?
Fast jeden Winter kam auch Mutter wieder. Ich wusste nicht warum und musste mich meistens erst erneut an sie gewöhnen. Sie war so anders. Kurz nach ihrer Ankunft wurde es bei uns laut: Schimpfen, Geschrei, manchmal sogar richtiges Toben. Es gab erbitterten Streit. Worum gestritten wurde, bekam ich im Einzelnen nicht mit und konnte vieles nicht einordnen. Ich hörte alles, verstand manches. Manche Worte waren sehr heftig, sie jagten mir Angst ein. Manchmal glaube ich aber, dass sie um Nichtigkeiten stritten. Es war fürchterlich! Anhaltendes Gezänk mochte ich gar nicht. Ich konnte es nicht er- und vertragen!
Vor allem Opa wurde sehr böse, wenn er Mutter sah: „Geh zurück zu deinem Mann“, hörte ich ihn häufiger brüllen. Opa war dann ganz anders als sonst und ganz anders als zu mir. Er schrie: „Du hast uns vor deiner Heirat nicht gefragt. … Du brauchtest uns nicht. … Der Mann sah älter aus als ich. …“ Und vieles mehr. Oma versuchte zu beruhigen, zu beschwichtigen, zu besänftigen. Mutter konnte ich dann kaum Fragen stellen ohne brüsk zurückgewiesen zu werden. In ihren Augen war ich dumm. Vielleicht sollte ich ja auch dumm bleiben? Lange Zeit konnte ich nach solch einem Geschrei Mutter nichts fragen, gar nichts, überhaupt nichts. Sie blieb mir gegenüber stumm.
Grundsätzlich galt: Mutter und Opa durften nicht alleine zusammen kommen, so hatte es Oma beschlossen und sie achtete darauf, dass das eingehalten werden konnte, auch Tante Mariechen musste mit aufpassen.
29.6 „Warum haben wir kein Haus?“
Wurden die wiederkehrenden Streitigkeiten heftiger, schlich ich mich hinaus und verzog mich dann - sobald es ging - auf die Synagoge und da war ich mit den Katzen alleine.
Ließ das Wetter es zu, ging ich gern hinaus auf die Straße, um mit den Nachbarskindern zu spielen. Auch da gab es manchmal bösen Streit. Die Nachbarskinder schrien mich dann oft an: „Das ist unser Haus! - Geh weg von unserm Haus!“ Wenn draußen solche Streitfälle vorgefallen waren und sie für mich nicht selten mit einem solchen Befehl endeten, ging ich zu Oma und Opa.
Selbst Elsbeth, meine beste Freundin, schrie mich einmal an: „Geh weg von unserm Haus.“ Das war bitter für mich. Das tat mir weh. Das war mir zu viel! Heulend rannte ich über die Straße, in unsere Wohnung, Nachdem ich mich beruhigt hatte, fragte ich laut und vorwurfsvoll: „Warum haben wir kein Haus? “
Noch heute erinnere ich mich, dass ich oft nur eine Frage stellte: „Warum haben wir kein Haus?“ Ich konnte nicht verstehen, dass andere Leute ein Haus hatten und wir nicht.
Mit dieser meiner Frage hatte ich was ausgelöst, Geschrei zwischen Oma und Opa. Versuche zu beschwichtigen, gelangen kaum, weder Tante Mariechen, noch den geflohenen Verwandten und wer sonst gerade anwesend war.
Also hier nur eine fragmentarische Zusammenfassung des tage- oder sogar wochenlangen, aufgeregten Streitgesprächs: Opa hatte „viel Geld vom Munde abgespart“. Er wollte hier kein Haus, er wollte zurück in seine alte Heimat und die Ländereien, die sein Vater zusammen mit seiner Stiefmutter „verschleudert“ hatte, wieder aufkaufen. Sein Vater hatte „ausgewirtschaftet“. Opa war zwar Eisenbahner gewesen, aber im Grunde war er Bauer und verstand auch etwas davon. Er kannte Pflanzen, Tiere und seine Arbeit und sein Rat wurden von den Bauern vor Ort hoch geschätzt.
Das gesparte Geld hätte für ein kleines Einfamilienhaus gereicht. Ein Verwandter von ihm - Polier von Beruf - wollten für uns in Osnabrück-Marienborn ein Häuschen bauen. Oma wollte gerne, hatte da aber wenig zu sagen. Opa aber war strickt dagegen, denn er wollte immer zurück nach Ostpreußen und dort das „verschleuderte“ Land des „ausgewirtschafteten“ väterlichen Besitzes zurückkaufen, um es als Bauer zu bewirtschaften. Er wollte weder ein Haus noch ein Hofgebäude, sondern lediglich die Ländereien aufkaufen. Oma sah sein Vorhaben als unrealistisch an, da sie beide bereits über 60 Jahre alt und nicht ganz gesund waren.
Mit Mühen ließ er sich von seinen geflohenen Verwandten davon überzeugen, nach Kriegsende seinen festen Entschluss nicht zu verwirklichen. „Da ist der Russe, da kannst Du nicht mehr hin.“ Opa sah nach seiner Auffassung mit Russen grundsätzlich keine Probleme. Das Problem für ihn waren die Deutschen, als Kriegstreiber. Sie waren in Russland eingefallen und nicht umgekehrt, so war´s!
Und dann, plötzlich wieder Geschrei: Das Geld war weg, „30.000 Reichsmark waren futsch“. Opa konnte es nicht fassen, Oma machte Vorwürfe: „Du kannst kein Haus bauen. sondern nur Bienenhütten und das Blockhaus im Garten.“ Ich verstand sehr wenig von all dem Gerede. Es gab Streit, erbitterten Streit.
Auch über diese Sache mit dem Haus gab es häufig und über Jahre heftigen Streit.
Fast alle Diskussionen, egal worüber, liefen nach einem ganz bestimmten Schema ab: Es gab Zoff, dann zog sich Oma mit dem Kommentar „Behalte Du Dein Recht, ich behalte mein Recht“ aus der Diskussion zurück. Wenn sich dann zeigte, dass sie in einer Sache objektiv Recht hatte, schimpfte Opa Oma an: „Warum konntest du dich nicht durchsetzen?“ oder „Konntest du dich nicht durchsetzen?“ oder „Du hättest dich durchsetzen sollen.“ Nach diesen Sätzen, die häufiger fielen, mussten Beide dann manchmal doch lachen. Ich lachte dann mit, alle lachten.
An diese Aussprüche der Beiden denke ich heute noch amüsiert.
Da war ich noch nicht in der Schule.
Und dann war da noch ein anderes Haus. Im Ruhrgebiet hatte meine andere Großmutter - die Mutter meines Vaters - drei Häuser. Zwei waren völlig zerbombt und das, in dem wir wohnten, war bei einem Luftangriff stark zerstört worden und meine Mutter, mein Vater und ich waren wieder bei Mutters Eltern - also bei Oma und Opa - so wie Mutter vor meiner Geburt zu ihnen, die schon einige Jahre vorher in das Bergland im Süden gezogen waren, evakuiert worden war. Und ich kam in einer bäuerlichen Kleinstadt zur Welt. Als Säugling und im Kleinkindalter bin ich häufig zwischen den beiden Wohnorten gefahren worden, manchmal gingen meine Eltern sogar zu Fuß, um sich und wichtige Dinge vor den Bomben zu retten. Ich war dann zusammen mit einigen Habseligkeiten auf einem Bollerwagen verstaut. Ein weiterer Grund war, dass das Leben auf dem Lande billiger war, als in den Großstädten des „Kohlenpotts“, man musste zwar auf dem Lande sehr hart arbeiten, hatte aber wenigstens ausreichend zu essen. Viele Menschen aus den großen Städten des Ruhrgebietes kamen zum „Hamstern“ aufs Land, über 100 km bis in das Bergland.
„Ihr hattet also ein Haus im Kohlenpott“, erklärte Oma. „Deine Mutter hat deinen Vater aber verlassen, das heißt, sie ist von deinem Vater geschieden. Sie hat dich zu uns gebracht, damit wir für dich sorgen. Sie will arbeiten und Geld verdienen. Sie erhält aber wenig Geld, nur gerade so viel, dass sie davon alleine überleben kann. Manchmal wird sie auch um den Lohn `geprellt´, das bedeutet: sie hat gearbeitet und die Leute geben ihr einfach nichts dafür und sie schicken sie sogar weg, dann kommt sie meistens wieder zu uns.“
Gründe dafür erfuhr ich nach und nach, viele Jahre später.
Auf jeden Fall hatten wir - Oma, Opa, Mutter und ich - nie ein eigenes Haus gehabt.
08.03.2022 p
30. Fragen enden nie
30.1 Schlimm und ungerecht
Schon wieder Winter, schon wieder Weihnachtszeit, schon wieder Messen und Andachten in der großen Probsteikirche und wieder der Gang zur Krippe, mit dem Opferstock, auf dem die Figur eines kleinen, schwarzen, knieenden Jungen war, der seine flehenden Augen auf mich richtete.
Ich konnte es nicht ertragen. Ich konnte es nicht verstehen: Schwarze Kinder kommen nicht in den Himmel, nur weil sie nicht getauft sind. Aber die Kinder können doch nichts dafür, dass sie nicht getauft sind.
Schwarze Menschen leben in Afrika und sind sehr arm und ich bin nicht so arm, immerhin habe ich ein paar Pfennige und kann die in die Spardose werfen, damit das Kind und auch große schwarze Leute getauft werden können. Missionare machen das und dafür brauchen sie Geld. Ich gebe ihnen gerne etwas, wenn ich kann und wenn ich groß bin, gehe ich auch nach Afrika, um den schwarzen Kindern zu helfen, vielleicht als Ärztin oder als Lehrerin, oder so etwas, wer weiß?
Ich verstehe das aber trotzdem alles nicht. Der liebe Gott ist doch lieb und dann schickt er ein Kind, das gestorben ist und nicht getauft war, doch nicht in die Hölle, oder? Das ist doch nicht gerecht.
Wie irre rannte ich manchmal, grübelnd und laut nachdenkend durch die Wohnung, bis mich einer der Anwesenden schnappte und zu beruhigen versuchte. „Nein, die kommen nicht in die Hölle, die kommen in die Vorhölle, das ist das Fegefeuer.“ Auch das ist schlimm und ungerecht, stellte ich fest.
Jahrelang beschäftigte mich dieses Thema, eigentlich bis heute, nur in einer anderen Weise, wenn es um Ausbeutung und Plündern des „Schwarzen Kontinents“ geht.
30.2 Grausame Bilder
Am Sonnabend abends wurden die Hände gründlich mit Kernseife gewaschen und gut abgetrocknet. Auf dem Küchentisch wurde ein anderes, sauberes Handtuch ausgebreitet und die Heilige Schrift, also die Bibel, gelegt. Opa schlug das große Buch feierlich auf und las daraus vor. Erst danach aßen wir alle unser Abendbrot. Auch sonntags und wenn Zeit war, wurde mir die Bibel mit den vielen Bildern gezeigt. Auf einigen sah ich Menschen mit sehr grimmigen, dunkleren Gesichtern, als die der frommen Menschen, der Apostel und das unseres lieben Heilands. Diese bösen Menschen waren Juden. „Warum sind die so böse?“ „Die sind so, die haben damals den Tod Jesu gefordert und ihn ans Kreuz schlagen lassen.“ „Und warum?“ „Weil sie böse sind.“ „Wer? - Hast du das gesehen.“ „Nein, natürlich nicht, das war zu der Zeit als Jesus lebte.“ „Woher weist du das denn?“ „Aus Büchern und was die Priester von der Kanzel predigen und aus der Heiligen Schrift.“ „Du hast doch mal gesagt, `die Juden sind nicht schlecht´ und Mutter hat das auch gesagt.“ „Ja, das ist richtig. Ich weiß auch nicht, wie ich dir das erklären soll. Frag nicht immer so viel. Ich weiß es ja auch nicht.“ „Kanntest du Juden?“ „Ja, einige.“ „Und waren die böse?“ „Nein, das waren kluge, freundliche Menschen. Der Jude Baum in Dortmund war ein ehrlicher, hilfsbereiter Geschäftsmann. Was sie aber mit den Juden gemacht haben, dass sie sie umgebracht haben, unschuldige, gute Menschen, einfach umgebracht, das ist ein Verbrechen. Das hätte nie passieren dürfen, das ist eine Schande für das Land, für unser armes Deutschland.“ „Wer war das denn?“ „Das waren die Nazis.“ „Wart ihr auch Nazis?“ „Um Himmels Willen, nein, Kind, nie! Wir haben immer Zentrum gewählt.“ „Und Mutter?“ „Deine Mutter ist `eine Rote´.“ „Und wer ist Nazi?“ „Dein Vater war ein `kleiner Nazi´. Deine Mutter hat es mit ihm nicht ausgehalten und hat sich deshalb - als der Krieg vorbei war - von ihm scheiden lassen.“ S t i l l e
„Jetzt frag aber nicht so viel, deine ständige Fragerei regt mich auf.“
Absolute S t i l l e !
Vorerst blieb ich stumm, denn ich hatte das alles erst einmal zu verdauen.
14.03.2022 p
30.3 W e r ?
Es war ein schöner Sonntagnachmittag. Opa legte beliebte Wunschmusik-Platten auf den Plattenteller des Parlephons auf. Es gab Kaffee und leckeren Kuchen, denn Oma hatte am Vortag wieder einmal gebacken. Viele waren zu Besuch. Die Küche war voller Menschen. Auch Mutter saß am Tisch und ich spielte und las in meiner Spielecke, bekam aber trotzdem vieles von dem Gesprochenen mit. Es war friedlich, teilweise sogar vergnügt. Mutter saß so, dass ich sie aus meiner Ecke genau anschauen konnte. Sie saß da, aufrecht und mit ernstem Gesichtsausdruck. An den munteren Unterhaltungen beteiligte sie sich kaum. Ich beobachtete, wie sich ihr Gesicht veränderte. Ihren Stuhl rückte sie zurecht - das erzeugte ein schabendes Geräusch - sie nahm Haltung an und saß noch gerader als schon vorher da, auf ihrem Stuhl. Mit lauter, fester Stimme sagte sie in das muntere Geplauder hinein:
„Sie sind noch alle da!“
Abruptes Schweigen. Alle schauten Mutter an und sie schaute mit finsterer Miene alle an. Schob ihren Stuhl zurück. Wieder das laute Geräusch, diesmal in die Stille hinein. Sie stand auf, fast schwerfällig und verließ wortlos den Raum.
Keiner sagte mehr etwas, nach einander verließen uns alle.
Oma stand in einer Ecke und weinte leise. Sie putzte die Tränen mit einem Zipfel ihrer Schürze ab. Ich stand auch da, dachte nur, „wer?“ „Wer ist da? Wen meint die?“, fragte aber nichts. Es war so unheimlich, ich traute mich auch nicht, irgendjemanden zu fragen.
Diese Szene vergesse ich nicht. Es muss 1952 gewesen sein, denn ich war schon in der Schule. Die Tragweite dieses Satzes - sozusagen als Schlüsselsatz - habe ich erst viele Jahre später begriffen: Sie meinte die Nazis. Viele der Nazis, die vorher „an den Schaltstellen saßen“, waren auch nach 1945 immer noch da und „in Amt und Würden“. Die gleichen Nazis, die vor 1945 in den Rathäusern, Ämtern und Behörden saßen und dort oft auch diskriminierende Entscheidungen - über Menschen, wie Mutter - und ihre Schicksale, getroffen hatten, taten das auch noch lange nach dem Ende des Terrorregimes, ohne dass das für diese Personen irgendwelche Konsequenzen hatte.
30.4 „Die Straßen waren rot wie Blut.“
Oma erzählte mir - wenn wir beide alleine waren - immer häufiger vom Krieg, von Ängsten, Tod und der Flucht und Vertreibung vieler Menschen, wie auch „Tantchen“ und die anderen, die jetzt hier zu uns und in den Westen geflohen sind.
Und sie berichtete auch, dass jüdischen Menschen alles genommen wurde, sie verjagt und ihr Besitz zerstört, zerschlagen oder konfisziert wurde. Viele, sehr viele Juden wurden misshandelt und sogar umgebracht. Manchmal, wenn sie erzählte, standen Tränen in ihren Augen und ihre Stimme versagte.
Viele Menschen „duckten sich weg“, man wusste nicht, wem gegenüber man etwas sagen konnte, denn viele waren Nazis, sogar begeisterte Nazis, auch unter den eigenen Verwandten musste man „Vorsicht walten lassen“. Man konnte „angeschwärzt“ und schwer bestraft werden, wenn man sich „gegen ihre Machthaber und ihre Machenschaften“ stellte oder gar etwas gegen Hitler und seine Kriege sagte. Sie sah Hitler und sein Handeln als verrückt an: „Dann hat er auch noch Amerika den Krieg erklärt.“ Oma verstand nicht, wie man diesem „Unmenschen“ nachlaufen konnte. Sie fand ihn hässlich und durch das Geschrei und das verzerrte Gesicht fühlte sie sich abgestoßen: „Wie der schon aussah.“
Ein weiterer Satz von ihr wird mir ebenfalls immer im Gedächtnis bleiben: „Die Straßen waren rot wie Blut.“ Denn jedes Haus musste rote Hakenkreuzfahnen hissen. Wer sich keine großen Fahnen leisten konnte, musste wenigstens kleine rote Papierfähnchen raushängen.
16.03.2022 p
30.5 Geheimnisvolle Schnittmuster
Da Oma mir nun häufiger vom Krieg erzählte, wagte ich es doch noch einmal, nach den großen Blättern, die unten im Kleiderschrank lagen und keine „Schnittmuster“ seien, zu fragen. Weit ausholend erfuhr ich dann Folgendes: In der Stadt lebte ein Arzt, der sich um jüdische Menschen, die fliehen mussten, kümmerte. Deine Mutter war früher in Holland gewesen und kannte dort jüdische Familien, die bereit waren, Juden bei sich aufzunehmen oder an andere Menschen weiterzuleiten. Und daher arbeitete deine Mutter mit diesem Doktor zusammen. Diese Juden mussten erst einmal die Grenze zwischen Deutschland und Holland unbemerkt und sicher passieren können. Sie mussten über die „grüne Grenze“. Im Anfang hat deine Mutter sogar einige Trupps Flüchtender begleitet und bis zur „grünen Grenze“ geführt. Das „war 1941/42, du warst noch nicht auf der Welt“. Dann schaffte sie es zeitlich aber nicht mehr und dein Vater schöpfte Verdacht.
Wenn es ging, zeichneten deine Mutter und ich - auch Opa half manchmal - diese „Schnittmuster“, die eigentlich die Wege waren, die diese Menschen zu gehen hatten. Oma holte einen Plan, breitete ihn vor mir auf dem Tisch aus und wies auf Buchstaben und Ziffern hin. Die Linien mit diesen Buchstaben und Ziffern waren verschiedene Wege zu den jeweiligen Zielorten. Wurden diese Menschen erwischt, meistens von Männern, konnten sie - so wie du - annehmen, dass das „Schnittmuster“ seien. Die Menschen taten in Grenznähe so, als sammelten sie Kräuter, Pilze oder Früchte von den Wiesen und Feldern. Eine von ihnen hatte nur rein zufällig auch noch ein „Schnittmuster“ in der Tasche.
Mutter bekam offiziell nichts dafür. Aus reiner Dankbarkeit schenkten ihr diese Menschen vorher aber kleine Schmuckstücke oder auch etwas Geld. Nach 1945 hat Mutter einige dieser Schmuckstücke versetzt oder ins Pfandhaus getragen, um selbst überleben zu können.
19.03.2022 p