GeschichtenB1

 

Teil II

Wer waren sie und wo kamen sie her?

 

 

Prolog

Nun mache ich, Josi, einen Sprung in eine andere Zeit - rückwärts - zu einem anderen Ort.
In eine Zeit, in der ich nicht war und ein Land, das ich so nie erleben konnte. Ich springe in die Zeit des 19ten Jahrhunderts, vor die Zeit meiner Mutter, zu der ihrer Eltern und Großeltern.
Der Sprung geht in ein Land, das Ostpreußen hieß und zum damaligen Preußischen Kaiserreich gehörte, und in eine Landschaft, geprägt durch den Memelstrom, der mit seiner Deltamündung, den verschiedenen, breit verzweigten Mündungsarmen in das Kurische Haff fließt. Nach dieser Landschaft - dem Memelland - haben sich meine Großeltern Zeit ihres Lebens zurückgesehnt. Ein geflügelter Ausspruch meiner Großmutter war: „... ach ja, der Himmel überm Memelland.“.
Ich erzähle aus dieser Zeit und einigen Orten, so wie es mir erzählt wurde.

 

1. Meine Großmutter

1.1 Die Eltern meiner Großmutter - meine Urgroßeltern
Meine Oma - die Mutter meiner Mutter - wurde 1880 in Skirvitell in Ostpreußen geboren, auf den Namen Martha getauft und von Verwandten und Freunden zeit Lebens „Martchen“ genannt.
Ihr Vater, mein Urgroßvater, war Bernsteintaucher und tauchte in den eisfreien Monaten in der Ostsee nach Bernstein. Im Winter, wenn die Ostsee im Küstenbereich zugefroren war, blieb er zu Hause und schnitzte aus Bernstein Schmuckstücke oder auch Figuren und Hausaltärchen, die er verkaufte. Seine Arbeit war hart und gefährlich. Die Tauchanzüge waren nicht so gut wie heutzutage und die Taucherglocke, die seinen Kopf schützte, war schwer. Durch die langen Tauchgänge im kalten Ostseewasser erkrankte er an Schwindsucht und starb.

1.2 Scheintod
Der Doktor hatte den Tod meines Urgroßvaters festgestellt und den Totenschein ausgestellt. Mein Urgroßvater lag auf dem Totenbett und sollte in drei Tagen beerdigt werden. Freunde und Verwandte hielten an seinem Bett die Totenwache. Kurz bevor der Tote für seine Beerdigung abgeholt werden sollte, fing meine Großmutter, die da ja noch ein kleines Kind war, plötzlich an zu schreien. Mein Urgroßvater schlug seine Augen auf und fragte mit matter Stimme: „Warum schreit die Kleine so?“ Großes Erschrecken, aber auch Freude darüber, dass er lebte. Trotz der intensiven und guten Pflege, lebte er nur noch ungefähr neun Monate und verstarb dann mit 32 Jahren endgültig, als meine Oma gerade einmal zwei Jahre alt war.
Meine Oma hatte mir das erzählt und sie äußerte immer ihre große Angst vor dem Scheintod. Sie glaubte, es könnte auch ihr am Ende passieren und erwartete einige Maßnahmen von mir, davon jedoch später.

1.3 Die junge Witwe
Als junge Witwe hatte Omas Mutter, also meine Urgroßmutter, zwar die Pflicht für ihr Kind zu sorgen, aber als Frau hatte sie keine Rechte, eben auch kein Sorgerecht für ihre kleine Tochter, meine Oma. Dem zufolge bekam meine Oma - als Halbwaise - einen Vormund bestellt. „Er war zwar evangelisch, aber er war ein guter Mensch“, so charakterisierte sie ihren Vormund.
Frauen hatten im 19. Jahrhundert keine Rechte. So konnte meine Urgroßmutter, als junge Witwe, auch nicht einmal nach meines Urgroßvaters Tod das verliehene Geld, das sie dringend für ihr Töchterchen und sich gebraucht hätte und auch, um das kleine Haus mit seinen Nebengebäuden in Stand zu halten, wieder eintreiben. Die beiden - meine Urgroßmutter und meine Großmutter - verarmten völlig.
Nach einigen Jahren heiratete meine Urgroßmutter zum zweiten Mal und bekam eine weitere Tochter. Ida hieß die Kleine und war 11 Jahre jünger als meine Oma. Die „kleine Ida“ war Omas Einundalles und Oma war zu ihrer Halbschwester wie eine zweite, gute Mutter.

1.4 Omas Kindheit endete abrupt
Als meine Oma 12 Jahre alt war, nahm meine Urgroßmutter sie für immer aus der Schule, damit sie ihr auf dem Feld oder auch auf dem kleinen Hof helfen konnte. Sie zahlte lieber eine Strafe für diese Verletzung des Schulpflichtgesetzes, als auf die tatkräftige Mitarbeit des Mädchens zu verzichten. So hatte meine Oma auch nicht viel lernen können, nur das Leben.
Der kleine Hof stand direkt am Fluss Skirvit. Sie ernährten sich hauptsächlich von Kartoffeln, Gemüse wie Mangold, Möhren, rote Beeten, Rauke und Pflücksalaten und Fisch aus dem Skirvit oder dem Rußstrom. Sie fingen Aal, Barsch, Neunauge, Stint, Forelle, Lachs, Hering. … Der Fisch wurde mit gesammelten Kräutern vom Wegesrand und aus dem Garten gewürzt und im Backofen zubereitet. Fleisch gab es äußerst selten, nicht einmal jeden Sonntag. Zu den Hohen Festtagen aber wurde dann auch Fleisch zubereitet und als etwas Besonderes genossen.

Gern ruderte Oma mit ihrer Mutter zusammen den schweren Lastkahn mit Erzeugnissen aus dem Garten und von ihrem Feld nach Tilsit oder Ruß oder auch übers Haff nach Schwarzort zum Verkauf in Hotels, auf Märkten oder auch im Sanatorium. Manchmal wurde der Kahn auch von einem Uferpfad aus gezogen, man nennt das „trailen“. Konnte man dazu ein Pferd bekommen und einspannen, so konnte man sich glücklich schätzen, denn das Trailen war schwere Arbeit. Es kam auch vor, dass die Beiden von einem Dampfer übers Haff geschleppt wurden. Dann konnten sie sich ausruhen, bis sie auf der anderen Seite ankamen. Einer, der sie gern schleppte, war der Schiffer S. - ein Verwandter von Tante Mariechen - von der Schneidemühle mit seinem mit Holz beladenen Dampfer.

Die Winter waren lang und hart im Memelland. Das kleine Haus wurde im Herbst gegen die einsetzende Kälteperiode ausgerüstet. Die Fenster wurden fest geschlossen, die Ritzen mit getrockneten Kuhfladen, Moosen und in Streifen geschnittenen Lumpen verstopft und dann wurden Zweitfenster, als Doppelfenster von außen davorgesetzt. Gelüftet wurde die ganzen Wintermonate nur über die Haustür. Auf diese Weise blieb es im Haus einigermaßen warm und sie brauchten nicht so viel Brennmaterial. Vor allem mit Torf und auch getrockneten Kuhfladen wurde geheizt. Und in der Nähe des Kachelofens war der begehrteste, kuschelig warme Platz, auch zum Schlafen. Sie schliefen auf Seegras. Zum Zudecken hatten sie oft aus alten Kleidungsstücken zusammengenähte Säcke, gefüllt mit Seegras, Stroh oder Gänsefedern. Nur wenige besaßen Rosshaarmatratzen. Die Matratzen waren dreiteilig, mit einem zusätzlichen schrägen Kopfteil, darauf zu schlafen war ziemlich unbequem.

Meine Oma kannte Königin Luise, sie bewunderte und verehrte sie. So hatte ich ihre anschaulichen Erzählungen verstanden und lange in Erinnerung behalten. Königin Luise, die Retterin Ostpreußens, die sich Napoleon in Tilsit mutig in den Weg gestellt hatte. Diese Erzählung hatte meine Geschichtskenntnisse lange überdauert, bis ich im betagten Alter mein sonderbares Geschichtsverständnis erkennen und revidieren musste: Das kann doch so nicht gewesen sein, meine Oma kannte die Königin persönlich? Nein! Die sehr verehrte, geliebte Königin Luise lebte 70 Jahre vor meiner Omas Zeit.

1.5 Der allsonntägliche Kirchgang
Jeden Sonntag gingen sie zur Hl. Messe in die katholische Kirche nach Heydekrug und das war weit entfernt. Sie hatten eine Wegstrecke von etwa 2 Stunden in eine Richtung zurückzulegen und das bei jedem Wetter. Bei schlechtem Wetter oder im Winter mussten sie einfach mehr Zeit einplanen. Ein Zuspätkommen gab es nicht, das durfte nicht sein. Eine Ausnahme gab es, z. B. wenn so hoch Schnee lag, so dass kein Durchkommen möglich war. Sonntags waren sie also im Allgemeinen über fünf Stunden unterwegs. Auf dem Rückweg wurde das mitgenommene Brot verzehrt und zu Hause angekommen, konnten sie das gut vorbereitete, bescheidene Sonntagsmittagessen aufwärmen und gemeinsam einnehmen.
Die meisten Menschen, die dort lebten, waren evangelisch. Meine Oma, ihre Mutter, ihr Stiefvater und Omas Halbschwester Ida - auch Omas verstorbener Vater - gehörten der römisch-katholischen Minderheit an und lebten somit in der Diaspora. Die katholische Kirchengemeinde in Heydekrug war dem Bistum Ermland unterstellt. Die kleine Familie besaß ein Ermländisches Gesangbuch, zweisprachiges, auf litauisch und auf deutsch.

Manchmal konnte der sonntägliche Kirchgang auch gefährlich werden. Große Strecken zwischen Skirvitell und Heydekrug waren sumpfig, es ging durch kleine Wäldchen, kniehohe Heide, an Gebüsch vorbei, und es war das Gebiet der Elche. Einmal bekam Oma einen großen Schreck, als sie erkennen musste, dass sie sich plötzlich unbeabsichtigt zwischen einer Elchkuh und ihrem Kalb befand. Oma blieb zunächst wie angewurzelt stehen, ging dann mit kleinen Schritten langsam rückwärts. Sie hatte Glück, beide Elche zogen sich gemächlich - am Buschwerk Laub äsend - zurück.

1.6 Das arme, kranke Schweinchen
Die Familie zog auch regelmäßig ein Schwein groß, um es dann an einen Metzger zu verkaufen und dadurch die Haushaltskasse aufzubessern. Sie hatte wieder ein Schweinchen draußen im Schuppen. Das Tier hatte plötzlich keinen Appetit mehr, fraß nichts und hatte auch mehrere Tage schon keine Verdauung gehabt. Es ging dem Schweinchen zusehends schlechter und sie machten sich Sorgen um das Tier. Da wandten sie ein altbewährtes Hausmittel, Glaubersalz, an. Weil das Schweinchen aber so richtig krank war, wurde ihm in der Wohnstube ein warmes Lager hergerichtet und es wurde unter ständiger Aufsicht liebevoll gesund gepflegt. Es war über eine Woche in der guten Stube und wurde wieder gesund. Aus lauter Anhänglichkeit folgte es vor allem meiner Oma auf Schritt und Tritt. Es wuchs und wurde groß und stark. Dann verkaufte es Omas Mutter wie all die Schweine vorher an den Metzger. Oma betonte ausdrücklich, dass sie alle niemals von dem Fleisch gegessen hatten, weil sie das einfach nicht gekonnt hätten, da ihnen allen vor allem dieses Schweinchen ans Herz gewachsen war.

1.7 Die Heiratsvermittlung
Als meine Großmutter über 20 Jahre alt war, lernte sie meinen Großvater unter Aufsicht ihrer Mutter und ihres Vormunds kennen. Oma berichtete gern darüber: Zwei Kutschfahrten an zwei aufeinander folgenden Sonntagen wurden zu diesem Zweck des Kennenlernens von ihrem Vormund arrangiert. - Denn, wie bereits gesagt, zu der Zeit hatte ihre Mutter kein Sorgerecht, sondern nur Sorgepflichten. Nur der leibliche Vater hätte das Sorgerecht gehabt und der war ja tot.
Als beide jungen Leute nichts gegen den anderen vorzubringen hatten, wurden sie verheiratet. Ausgewählt wurden die Beiden von dem Vormund meiner Oma nach folgenden Kriterien: „Verarmte Halbwaise und verarmter Bauernsohn“. Ein weiterer noch entscheidenderer Gesichtspunkt war: Beide hatten dieselbe Religionszugehörigkeit, sie - und ihre beiderseitigen Familienangehörigen - waren römisch-katholisch.
Nach und nach lernten sich die frisch Vermählten allmählich kennen, denn Opa war aus einem anderen Sprengel.
Das muss Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sein.
15.08.2022 p

 

2. Mein Großvater

2.1 Kindheit und Jugend
Meines Großvaters Kindheit verlief trotz harter Arbeit auf dem Hof in Schillgallen, Kreis Heydekrug relativ unbeschwert. Die Arbeit bei und mit den Tieren, besonders den Pferden, machte sie für ihn erträglich. Als größerer Junge durfte er im Spätherbst und Winter seinen Vater mehrmals auf der Bärenjagd in Russland begleiten. Dann starb seine Mutter recht früh bei der Geburt seines jüngsten Geschwisterchens. Dieser Verlust der Mutter war für meinen Opa - in seinen jungen Jahren - sehr schlimm. Sein verwitweter Vater - also mein Urgroßvater - und Opas Geschwister bewirtschafteten zusammen mit dem Gesinde den Hof, so gut sie es vermochten. Einige Jahre nach dem Tod seiner Frau - also meines Opas Mutter - heiratete sein Vater eine Frau, die bereits einen erwachsenen Sohn in diese zweite Ehe brachte. Bald darauf wurde mein Großvater zum Militär eingezogen. Er war bei der Kavallerie.
Als er nach seinem Militärdienst wieder auf den väterlichen Hof zurückkam, musste er nach kurzer Zeit erkennen, dass der Hof ausgewirtschaftet war. Sein Vater und seine Stiefmutter „lebten auf großem Fuß“. Sie vergnügten sich in einigen umliegenden Badeorten und außerdem hatte die Stiefmutter erreicht, dass Ländereien zu Gunsten ihres leiblichen Sohnes verkauft worden waren. Der Besitz war sozusagen ruiniert.
Als meinem Großvater das volle Ausmaß des Betruges an ihn und seinen Geschwistern klar geworden war, ging er in voller Militärmontur in die elterliche Schlafstube, zog seinen Degen und zerteilte voller Wut das Bett der Beiden mit einem Hieb in zwei Teile. Die Bettfedern stoben durch das Haus. Alle flüchteten aus dem Haus.
Mein Großvater verließ den Hof und betrat ihn nie wieder. Das muss sich Ende des 19. Jahrhunderts zugetragen haben.

2.2 Mein Großvater, ein leidenschaftlicher Eisenbahner
Dann meldete sich mein Opa bei der Reichsbahn an. Er war mit Leib und Seele „Eisenbahner“ und sehr stolz darauf, das entnahm ich seinen vielen eigenen Erzählungen von teilweise abenteuerlichen Erlebnissen mit der Bahn: So mussten die Züge bei jedem Wetter pünktlich fahren, auch bei dichtestem Nebel. Wenn sie durch den Nebel nur einige Meter weit sehen, aber die Signale nicht eindeutig erkennen konnten, musste einer von ihnen am Signalmast hochsteigen und nachschauen, ob das Signal auf Weiterfahrt stand und konnten dann, wenn sie sich dessen versichert hatten, fahren. Anfangs führ er auf der Strecke Heydekrug - Pogegen über Jugnaten.
In dieser Zeit stellte es sich für ihn heraus, dass er ein großes Handicap hatte, er war nämlich farbenblind, rot und grün konnte er nicht unterscheiden. Die Signallichter konnte er nicht erkennen, rot oder grün erschien ihm gräulich und das machte es ihm unmöglich, Lokomotivführer zu werden, sein Traumberuf. Zuerst arbeitete er also als Heizer. Das war wohl eine furchtbare Schinderei. Später wurde er Maschinist. Eine Lokomotive - und auch die verschiedenen Modelle - kannte er in- und auswendig. Kleinere Reparaturen wurden - wenn nötig - auf Strecke durchgeführt. Er war Tag aus, Tag ein unterwegs, die Bahn war sein Zuhause geworden.

 

3. Ehejahre – Jahrzehnte des Zusammenseins

3.1 Auf sich allein gestellt
Diese beiden jungen Menschen - also meine Oma und mein Opa, in jungen Jahren - waren nun miteinander bekannt gemacht und verheiratet worden (s. Teil II Kap. 1.7). Wo genau und in welcher Form die Hochzeit stattgefunden hat, ist mir nicht erzählt worden. Ich hatte auch nicht danach gefragt.
Das frisch verheiratete Paar lebte in einer schäbigen Unterkunft in Insterburg, die voller Flöhe, Läuse und Wanzen war. Das junge Paar wurde von den „Plagegeistern arg gebissen und gestochen“.
Alle möglichen Hausmittel, die die Beiden kannten, wurden gegen die Tierchen eingesetzt, mit mehr oder weniger Erfolg. Die Füße der Bettgestelle hatten sie in mit Petroleum gefüllte Gläser gestellt, um zu verhindern, dass die Viecher von unten in die Betten krochen. Hier kam ihre erste Tochter Agnes - meine Mutter - zur Welt. Bald darauf wurde mein Opa auf der Strecke Königsberg - Berlin eingesetzt. Sie zogen um und hatten sich - mit Hilfe anderer Eisenbahner - wohnungsmäßig leicht verbessern können.

3.2 Der „Kohlenpott“ lockt
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden im Ruhrgebiet, dem damaligen „Kohlenpott“, viele Arbeiter gebraucht. Menschen aus den östlichen Landesteilen und auch aus östlichen Ländern wurden angeheuert. Für die Schwerindustrie brauchte man vor allem Güterzüge. So wurden auch Eisenbahner angeworben und mein Opa wurde nach Dortmund-Huckarde versetzt. Die junge Familie zog wieder um. Inzwischen war ihre zweite Tochter, Gertrud, auch „Trudchen“ genannt, auf der Welt. Gegenüber dem großen Güterbahnhof in Huckarde standen drei Bahnhäuser und in dem mittleren bezog die vierköpfige Familie eine helle, geräumige Dienstwohnung. Hinter dem Haus lag ein großer Garten, den sie anteilig bewirtschaften durfte. Er war mehr das Reich meiner Großmutter. Hier zog sie Blumen, Gemüse und Küchenkräuter auf, die sie als kleinen Nebenverdienst auf Märkten in Dortmund verkaufte.

3.3 Tod eines Kindes
Trudchen, ein sehr liebes, sanftes Kind, viel lieber als die zwei Jahre ältere Agnes - meine Mutter - und aller Liebling, vor allem der meiner Oma, wurde schwer krank. Das Mädchen bekam plötzlich keine Luft mehr. Der herbeigeholte Doktor vollzog noch einen Luftröhrenschnitt, es war aber zu spät und er konnte nur noch den Tod feststellen. Dieser Tod des siebenjährigen Kindes war unendlich traurig und eine Katastrophe für die ganze Familie. Freunde, Nachbarn und Opas Kollegen nahmen großen Anteil an diesem Schicksalsschlag. Das muss 1916 gewesen sein.
Meinen Opa hatte der Tod seines zweiten Kindes sehr mitgenommen. Er trauerte still. Meine Oma erzählte mir zeitlebens immer mal wieder diese schlimme Geschichte, wie die Kleine sich auf ihre Zunge gebissen hatte und die Zunge der Toten noch aus ihrem Mund hing. Dieser Anblick des Todeskampfes ihres kleinen Mädchens war für die Eltern so entsetzlich dramatisch gewesen, dass Beide ihn nur schwer verwinden konnten.

3.4 Die hinterbliebenen Elternteile finden bei meinen Großeltern Unterschlupf
Omas Mutter - meine Urgroßmutter - war erneut verwitwet und kam aus Ostpreußen zu ihnen nach Dortmund. Sie half im Haushalt, so gut sie es vermochte und starb bald. Sie hatte nur noch kurze Zeit mit ihnen zusammen gelebt.

Opas Vater - mein Urgroßvater - kam als völlig verarmter, mittelloser Mann nun auch zu ihnen nach Huckarde, in diese Dienstwohnung. Es war unglaublich. Er hatte alles verspielt, vertan und war auch wieder Witwer geworden. Und da er nun mal da war, sorgten sie schweren Herzens auch für ihn. „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden“, so begründeten Beide ihr Handeln ihm gegenüber mit dem 4. Gebot. Die Stimmung jedoch war gereizt. Alle vermieden, Vater und Sohn unbeobachtet alleine zu lassen, sie fürchteten Schlimmes, bis hin zu „Mord und Totschlag“.

3.5 Unendliche Wut
Über meinen Großvater kursierten in unserer Familie teilweise schlimme Geschichten aus früheren Zeiten, die mir wiederholt als „Familiensaga“ gern erzählte wurden. In der Familie war mein Opa berühmt wegen seines Jähzorns. Für seine gewaltigen Zornesausbrüche war er gefürchtet: Tante Martha aus Recklinghausen, eine Cousine meiner Oma, war zu ihr nach Dortmund zu Besuch gekommen. Da sich die beiden Frauen Jahre nicht gesehen hatten, wollte Martha für ein paar Tage bleiben. Beide hatten sich eine Menge zu erzählen. Es war ein Gequassel, Gekicher und Gegluckse. Mein Opa aber hatte Nachtschicht und musste daher am Tag schlafen. Er konnte jedoch nicht, weil die beiden Frauen zwar leise sein wollten, es ihnen aber nicht immer gelang, das Lachen zu unterdrücken und vor allem Tante Martha immer wieder kicherte und sogar laut auflachte. Opa sprang voller Zorn auf, brüllte beide an und schnappte Tante Martha, die eine recht zierliche Gestalt war, und wollte sie aus dem Fenster schmeißen. Meine Oma versuchte ihren Ehemann daran zu hindern, indem sie ihn besänftigte. Es muss eine tumultartige Auseinandersetzung ausgebrochen sein. Er ließ dann doch von Tante Martha ab, verließ unter großem Wutgebrüll und Gepolter die Wohnung und kam erst am darauf folgenden Morgen nach getanem Dienst zurück.
Tante Martha hatte nach diesem Vorfall die Flucht ergriffen und besuchte erst Jahrzehnte später - nach dem Tod meines Opas - wieder ihre Cousine, meine Oma. Und da lernte ich Tante Martha kennen, als eine liebenswerte, sehr lustige, alte Dame, die trotz ihres harten Lebens und mancher Schicksalsschläge - sie hatte einen Trunken- und Raufbold als Ehemann und ihr Sohn hatte bei einem Grubenunglück ein Bein verloren - fast immer zum Scherzen aufgelegt war und sehr viel lachte.

3.6 Opas Zorn auf Omas Kater und andere Menschen
Meine Oma hatte einen treuen, schwarzen Kater, der Peterle gerufen wurde und alles tat, was sie ihm beibrachte. Er konnte kleine Kunststückchen und machte sie unermüdlich, solange sie es wollte. Dieses Tier war anhänglich und stark auf Oma fixiert.
Mein Opa kam von der Arbeit müde und hungrig nach Hause und wollte aus dem Vorratsschrank seinen Hering vom Vortag nehmen, um ihn nun zu essen, aber der Fisch war weg. Wer hatte seinen Hering verspeist? „Es kann nur der olle Kater gewesen sein, das nutzlose Tier. Wo ist er? Wenn ich den erwische.“ Und er erwischte ihn, steckte ihn in einen Sack und „verdrosch ihn nach Strich und Faden“. Dann ließ er den armen Kater laufen und der ward vorerst nicht mehr gesehen.
Eines Morgens, meine Oma war bereits in der Küche, war Peterle plötzlich wieder da, stark abgemagert und sein ehemals glänzendes Fell war struppig. Er war völlig verwahrlost. Oma kamen die Tränen bei diesem Anblick, aber auch vor Freude darüber, dass er lebte und endlich wieder da war. Als mein Opa die Küche betrat, war der Kater wieder weg.
War mein Opa alleine in der Küche, ließen sich weder sein alter Vater noch der Kater blicken, so wurde erzählt. Beide wagten sich erst aus der Deckung, wenn meine Oma sich länger in der Küche zu schaffen machte.

Meines Opas Vater saß beim Mittagessen oder wenn es auch abends mal etwas Warmes zu essen gab nicht mit allen zusammen am Tisch, sondern am Küchenherd und auf der Herdplatte brutzelte in einem Blechteller sein Essen vor sich hin. Er hatte die Eigenart, sein Essen kochendheiß zu verspeisen. Oma fand sein Verhalten irritierend und befürchtete, die Leute, die das sähen, könnten sie beschuldigen, eine böse Schwiegertochter zu sein. Sein Kommentar dazu: „Alle Leute wissen, dass meine Schwiegertochter viel besser ist als mein Sohn.
Mein Urgroßvater besaß eine weitere Eigenheit: Er hasste Gardinen an den Fenstern und bezeichnete sie als „Spinnweben“, denn er liebte „den freien, ungestörten Blick nach draußen“. Seltsam ist, auch ich liebe „den freien, ungestörten Blick nach draußen“ und mag tagsüber keine verhängten Fenster.

Ich habe meinen Großvater jedoch völlig anders erlebt und in Erinnerung: Sehr abgeklärt, hilfsbereit und allseits respektiert.

3.7 Und andere Katastrophen
Nach einigen Jahren erlitt mein Großvater beim Rangieren eine schwere Kopfverletzung und kam für mehrere Monate in das Brüderkrankenhaus in Dortmund. Die medizinische Versorgung war so gut, dass er genesen war. Nur auf seiner Stirn trug er sozusagen ein unveränderliches Kennzeichen: Eine Vertiefung in Form einer umgekehrten Dreieckspyramide war in seine Stirn eingedrückt und blieb, nach Jahren zwar verblasst, Zeit seines Lebens.

Er konnte wieder bei der Reichsbahn arbeiten. Da bekannt war, dass er gut mit Tieren umgehen konnte, bekam er zwei Schäferhunde, als Bahnhunde, gestellt und musste den Güterbahnhof in Dortmund-Huckarde, vor allem nachts, kontrollieren. Diese Hunde lebten bei seiner Familie zu Hause. Für die Versorgung der Hunde kam die Bahn auf. Er jedoch, als „Hundeführer“, war allein für die beiden Diensthunde der Reichsbahn verantwortlich. Die Hunde hatten am Haus einen weitläufigen Zwinger und das Futter hatte gut zu sein. Der eine - Bendix hieß er - war ganz schwarz und sehr böse, der andere war friedlich. Nur mein Opa konnte sich Bendix nähern. Und er hörte auch auf niemandem, außer auf ihn. Der Hund schnappte sofort zu. Meine Oma konnte ihm den Fressnapf nur mit einem langen Stock entgegen schieben.
Mit sichtlichem Vergnügen erzählte mein Großvater folgende Begebenheit: Sehr spät abends, es war bereits dunkel, machte er mit Bendix die Runden über das Bahngelände in Dortmund-Huckarde und schaute auch stichprobenartig in die abgestellten Waggons. Plötzlich hörte er lautes Rufen: „… halten Sie den Hund fest! Halten Sie den Hund fest!“ Es war sein Vorgesetzter, der ihn kontrollieren sollte. Er wollte offiziell prüfen, ob mein Opa seine Dienst- und Kontrollpflicht auch gewissenhaft ausübt, und der Herr kannte den Hund und dessen Qualitäten.
Auf diesen nächtlichen Kontrollgängen trug er immer eine Karbidlampe in Laternenform mit sich und er besaß ein Morsegerät mit einer Papierrolle. Beides konnte er bedienen und kannte Lichtzeichen sowie das Morsealphabet.
Mein Opa war ein dienstbeflissener Beamter und stolz auf seine Tätigkeit als „Eisenbahner“, egal wo und wozu er einsetzt war.

3.8 Eine schwere Zeit
Nach dem ersten Weltkrieg wurde im Ruhrgebiet von den Franzosen ganze Anlagen demontiert und abtransportiert. Sehr viele Menschen dort wurden arbeitslos und hatten kaum etwas, um zu überleben. Es wurde viel gestohlen und geplündert. Mein Großvater betrachtete seine Tätigkeit auf dem Güterbahnhof in Huckarde als hohe Pflicht, fast als eine hoheitliche Staatspflicht. Er war sehr gewissenhaft und treu. Er war konservativ, eben ein Zentrumsanhänger.
Im Laufe der folgenden Jahre wurden die Arbeit und das Leben immer härter. Die Preise, gerade auch für Lebensmittel, stiegen ins Unermessliche und das Geld war nichts mehr wert /Link/. Es wurde ständig neues Geld gedruckt. Etwas Geld zurückzulegen, so wie sie es bislang gewohnt waren, war absolut nicht mehr möglich und völlig sinnlos zugleich. Also beschloss Oma, Waren einzukaufen, so auch für die Aussteuer ihrer Tochter Agnes - meiner Mutter - und als Tauschmittel.

3.9 Der „Jude Baum“
Als die Inflation im vollen Gange war, verfiel der Geldwert innerhalb weniger Stunden. Wenn mein Opa seinen Lohn erhielt, trafen sich Opa und Oma direkt danach am Tor zum Dortmund-Huckarder Güterbahnhof. Oma nahm sein Geld entgegen und fuhr mit der Straßenbahn sofort in die Innenstadt zum „Baum“. Herr Baum besaß ein großes Textilgeschäft und er war Jude. Meine Oma und viele anderen Leute schätzten seine qualitätsvolle Ware und kauften bevorzugt beim „Juden Baum“ ein. Dort kaufte Oma insbesondere Handtücher, Bett- und Tischwäsche, Stoffe usw., als Aussteuer für ihre Tochter, meine Mutter, ein. Einige Sachen konnte sie aber auch gegen andere begehrte Dinge eintauschen. Herr Baum galt als ein reeller Kaufmann und Oma sprach von dem „Juden Baum“ voller Hochachtung und belegte seine redliche Art mit der Schilderung folgender Begebenheit: Eines Tages ging sie wieder zum „Juden Baum“, um mehrere Handtücher von erlesener Qualität zu kaufen. Eine Verkäuferin seines Hauses weigerte sich aber, ihr die gewünschte Ware zu verkaufen, vermutlich weil meine Oma so ärmlich aussah. Daraufhin ließ Oma den Geschäftsinhaber rufen. Herr Baum kam und sagte zu seiner Verkäuferin: „Wenn die Frau bezahlt, warum soll sie die Handtücher dann nicht bekommen?“. Mein Oma war überglücklich und kaufte so viele sie bezahlen und auf ein Mal tragen konnte.
Diese Handtücher wurden sehr pfleglich behandelt und sie gehörten sogar noch zu meiner „Aussteuer“.

3.10 Rudi
In dieser bitteren Zeit kam auch Rudi zu ihnen. Er war nach dem Tod seiner Mutter - meiner Omas Halbschwester Ida - zunächst bei seinem Vater. Von ihm war er weggelaufen, weil sein Vater für ihn nicht sorgte, vielleicht auch gar nicht dazu in der Lage war. Der Junge war verwahrlost. Mein Opa hatte ihn per Zufall entdeckt und meine Großeltern nahmen ihn bei sich auf. Nun war meine Mutter nicht mehr allein, sie hatte in ihrem Cousin einen zuverlässigen Kammeraden und sah ihn fast wie einen Bruder an. Sie fühlte sich auch für ihn - der wesentlich jünger war als sie - mitverantwortlich.

Rudi war irgendwie irgendwo an einen Geigenbogen gekommen. Er bastelte sich eine kleine Geige aus einer Zigarrenkiste, einem Stück Holz und Haaren vom Pferdeschweif. Er spielte ganz schön auf seinem selbst gebastelten Instrument. Alle möglichen Volkslieder, aber auch klassische Musikstücke bedeutender Komponisten gehörten zu seinem Repertoire. Da er täglich auf irgendwelchen Plätzen der Stadt spielte, verbesserte er immer mehr seine Spieltechnik und auch seine Geige. Die Hyperinflation war verbunden mit einer großen Arbeitslosigkeit, daher fand auch Rudi keine Arbeit, also spielte und bettelte er, um wenigstens ein Minimum für seinen Lebensunterhalt beizusteuern.

Er war wieder einmal in der Stadt und spielte. Ein elegant gekleideter Herr beobachtete ihn - wie Rudi meinte - schon seit Tagen. Dieser Herr sprach ihn an, überreichte ihm seine Visitenkarte und lockte ihn zum Militär. Er versprach ihm eine Musikausbildung für die Militärkapelle.
Nach kurzem Überlegen, auch mit meinen Großeltern, ging Rudi zum Militär. Er wurde dort als Feinmechaniker im Flugzeugbau ausgebildet und durfte auch - wie ihm versprochen war - in der Kapelle spielen, was ihn sehr erfüllte. Er blieb beim Militär.
Meine Mutter hatte ihn viele Jahre später noch einmal gesehen. Als sie bereits verheiratet war, kam er auf seinem Heimaturlaub einmal kurz zu ihr. Dann flog er nach Griechenland und da verlor sich seine Spur. Mutter hatte lange versucht, ihn über das Rote Kreuz suchen zu lassen. Jedoch vergeblich, nichts mehr, kein Lebenszeichen von ihm und keine Nachricht über ihn. Die Suche war erfolglos geblieben und Mutter war darüber sehr enttäuscht und traurig zugleich. Rudi und sie waren wie innige Geschwister.

3.11 Unerwartet ist Schluss
Was war los? Opas Hände, vor allem die rechte Hand, machten ihm Probleme. Morgens waren seine Finger stark angeschwollen und steif. Beide Hände konnte er nur noch unter großen Schmerzen erheblich eingeschränkt einsetzen. Und manche Finger sprangen. Es sah komisch, fast lustig aus, schmerzte aber sehr. Hausmittelchen halfen nichts. Ein ihm gut bekannter Apotheker wusste auch keinen Rat, nannte nur eine Vermutung: „Gicht“, „Gichthände“, mehr nicht, mehr wusste er nicht.
Alle Quacksalberei half nichts.
Mein Opa ging wieder zu den Ärzten ins Brüderkrankenhaus, die ihn gut kannten. Auch die waren ratlos. Hatten aber schon mal von einem Franzosen gehört, der kranke Finger beschrieben hatte. Konnten aber für meinen Großvater nichts tun. Es half nichts, es wurde schlimmer, die Schmerzen in den Händen nahmen zu und wurden für ihn fast unerträglich. Er konnte nicht mehr richtig schlafen und er konnte bei der Arbeit auch nicht mehr zupacken. Er war für den Dienst bei der Reichsbahn untauglich, sprich, er war dienstunfähig geworden.
Mit ungefähr 54 Jahren war nun Schluss, wegen seiner kranken Hände, das war bitter für ihn, aber auch für seine Familie. Das war vielleicht so um 1931/32.
30.08.2022 p

 

 

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