Der Umgang mit hatespeech im Netz, aufgezeigt am Fall Künast

Bundespolitik

(Mit Nachträgen vom 03.02.2022 und vom 19.11.2022)

In den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde bei den Grünen diskutiert, ob gewaltfreier Sex mit Kindern erlaubt sei. Es setzte sich dann doch bei ihnen die Meinung durch, dass Sex mit Kindern immer tabu zu sein hat. Jedoch nutzten einige Pädophile diesen Anlass auch zur sexuellen Gewalt an Kindern und Heranwachsenden. Besonders schlimm ging es in einer Lokalität in Berlin-Kreuzberg zu.

Am 29.05.1986 wurde im Berliner Abgeordnetenhaus über Gewalt in der Gesellschaft diskutiert. Als Frau Kiele (AL) in ihrem längeren Beitrag u. a. auch auf Gewalt gegen Kinder in Familien einging, wurde sie durch folgende Zwischenfrage des Herrn Jewarowski (CDU) unterbrochen:
Frau Kollegin, können Sie mir vielleicht einmal konkret sagen, wie Sie zu dem Antrag der nordrheinwestfälischen Grünen stehen, die dort die Aufhebung der Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern gefordert haben?
Frau Künast (AL) rief unaufgefordert in den Plenarsaal: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiele ist!

Frau Kiele (AL): „Ich möchte dabei auf eine spätere Möglichkeit verweisen, diese Frage zu diskutieren, weil ich den sexuellen Mißbrauch von Kindern ausdrücklich bei dieser Geschichte heraushalten möchte. Der ist sowohl innerfamiliär wie auch gesellschaftlich ganz anders begründet. Wir werden dazu einen Antrag einbringen und sind dann gerne bereit, darüber etwas differenzierter zu diskutieren. Sie wollen mich jetzt doch hier, so glaube ich, nur vorführen.“ Dann fuhr Frau Kiele fort, sich mit der Problematik, Konflikte in Familien, auseinanderzusetzen. Quelle: Protokoll der 30. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 29. Mai 1986, S. 1701 und 1702 /Link/.

Diese Episode vom 29.05.1986 im Berliner Abgeordnetenhaus ist für das Folgende wichtig.

Denn später haben die Grünen die „Haltung des Landesverbandes Berlin von Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder von der Gründungsphase bis in die 1990er Jahre“ hinein aufarbeiten lassen. Der dazu gehörige Bericht erschien im Mai 2015. Der o. z. Zwischenruf von Frau Künast ist dort auf Seite 74 kurz erwähnt /Link/.

Frau Künast wollte mit ihrem (u. E. überflüssigen) ergänzenden Einwurf nur die Frage des Herrn Jewarowski korrigieren, denn sexueller Gewalt haben die Grünen als Partei zu keinem Zeitpunkt zugestimmt. Im Unterschied zu (anderen) Institutionen - wie Kirchen, Heime, Schulen, Sportvereine, usw. - wo auch sexuelle Gewalt stattfand, aber im Verborgenen, da nach außen hin der Schein gewahrt bleiben musste, haben die Grünen darüber schon damals offen diskutiert.

Frau Künast hat - soweit wir wissen - niemals der Straffreiheit zugestimmt, allerdings damals auch keine strikte Haltung gegen sexuelle Handlungen an Kindern gezeigt. Die Auswüchse in Kreuzberg waren ihr zu dem damaligen Zeitpunkt offenbar unbekannt.

Am 24.05.2015 erschien in der WELT ein Artikel darüber, in dem auch dieser Zwischenruf erwähnt wurde, mit der rhetorischen Frage der beiden Autoren versehen: „Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?“ /Link/.

Ein „Dritter“ hat dann den Zwischenruf von Frau Künast mit seiner eigenen Ergänzung auf Facebook, offenbar wie folgt, eingestellt: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt." (s. Beschluss vom 09.09.2019 des LG Berlin, s. u.).

Danach setzte ein Shitstorm gegenüber Frau Künast ein. Nutzer schrieben anonym auf Facebook Hasskommentare, Beschimpfungen und Beleidigungen.

Frau Künast wollte gerichtlich gegen die Nutzer vorgehen, dazu braucht sie aber Namen und Adressen der betreffenden Nutzer, die Facebook aber nicht preisgeben wollte (oder zum damaligen Zeitpunkt auch nicht durfte(?)). Sie klagte deshalb vor dem Landgericht Berlin auf Herausgabe von 22 Nutzernamen mit der jeweiligen IP- und E-Mail-Adresse.

Als Grundlage für das Folgende dient der „Beschluss vom 09.09.2019, Az.: 27 AR 17/19“ der 27. Zivilkammer (Pressekammer) des Landesgerichts Berlin /Link1/, /Link2/.

Frau Künast argumentierte vor Gericht, wie aus dem o. g. Beschluss zitiert: „Es handele sich um unwahre Tatsachenbehauptungen, die wider besseres Wissen geäußert worden seien und geeignet seien, sie verächtlich zu machen.“ … „Weiterhin handele es sich bei Worten wie "Stück Scheisse", "Krank im Kopf", "altes grünes Drecksschwein", "Geisteskrank", "kranke Frau", "Schlampe", "Gehirn Amputiert", "Drecks Fotze", "Sondermüll", "Alte perverse Dreckssau" um Beleidigungen. Die Äußerungen seien Paradebeispiele der sogenannten "Hatespeech", die in einem Shitstorm auf sie niedergeprasselt seien.“ Die Aufzählung der Beschimpfungen, die Frau Künast laut Beschluss zu ertragen habe, ist hier nicht vollständig.

Das Gericht lehnte in seinem Beschluss vom 09.09.2019 die Anordnung der Auskunftserteilung vollständig ab.
Es argumentierte (hier verkürzt wiedergegeben), dass der damalige Zwischenruf der Frau Künast - wie ihn ein Dritter in Facebook eingestellt hatte - so in der Öffentlichkeit angekommen sei und dass sich die oben aufgeführten Schimpfworte darauf bezögen und deshalb keine falsche Tatsachenbehauptungen, sondern nur erlaubte Meinungsäußerungen seien. Das Gericht ging u. E. fälschlicherweise vom o. g. Zitat des Dritten als Zwischenruf von Frau Künast aus: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt." In Wirklichkeit hatte Frau Künast nur den ersten Teil des Zitats gesagt, und der von uns grau hinterlegte zweite Teil ist vom Dritten selbst hinzugefügt worden.

Das Landgericht hat seine Entscheidung später überprüft. Mit dem Abhilfebeschluss vom 21.01.2020 hat das Gericht in sechs Fällen Frau Künast Recht gegeben. Wir nehmen an, dass mit „Nachhilfe“ des Anwalts der Frau Künast und der Öffentlichkeit die Richter gemerkt hatten, dass - wie oben geschildert - der Ausgangsbeitrag des Dritten auf Facebook den Zwischenruf der Frau Künast falsch wiedergegeben hatte /Link/.

Das Kammergericht Berlin als nächsthöhere Instanz hat weitere Beschimpfungen als Beleidigungen im Sinne von § 185 StGB eingestuft (Az.: 10 W 13/20). Allerdings nicht alle. Das Urteil ist rechtskräftig /Link1/, /Link2/, /Link3/.

Der weitere Weg:

Facebook „dürfe“ nun in 12 Fällen (von insgesamt 22 Fällen) die Nutzerdaten herausgeben. Wir gehen einmal davon aus, dass Frau Künast die Klarnamen und die IP-Adressen der 12 Nutzer-PC erhält; wenn sie Glück hat, auch die E-Mail-Adressen.

Damit muss sie dann von dem jeweilen Provider die Herausgabe von Namen und Anschrift der jeweiligen Nutzer fordern. Das kann daran scheitern, dass die damaligen (2015?) gültigen IP-Adressen inzwischen von den Providern gelöscht wurden (s. u.).

Sollten die Adressen der Nutzer ermittelt werden können, kann Frau Künast dann endlich gerichtlich gegen 12 Nutzer wegen deren Beleidigungen individuell vorgehen. D. h. dann erst finden die eigentlichen zivilen und strafrechtlichen Gerichtsverfahren statt; ein sehr langer und komplizierter Rechtsweg.

Frau Künast wurde von der Organisation HateAid unterstützt, die Betroffenen hilft und sie ggf. auch anwaltlich vertritt /Link/.

Unsere Meinung dazu:

Zunächst hätten - unserer Meinung nach - die Richter am LG Berlin, 27. Zivilkammer, die sachliche Grundlage für ihren Beschluss genau klären müssen. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass es den Richtern wichtiger war, alle Beschimpfungen „genüsslich durchzukauen“, um Frau Künast noch zusätzlich zu diskreditieren. An dieser unserer Meinung ändert auch die Tatsache nichts, dass diese ihren Beschluss dann doch noch leicht revidiert haben.
Ein Richter sollte unabhängig des Ansehens der Person, auch wenn er deren (politische) Ansichten nicht teilt, den Sachverhalt neutral beurteilen und urteilen.

Die Entscheidung der Richter der Pressekammer, welche wir aus zahlreichen Verfahren sehr gut kennen, ist aus unserer Sicht in weiten Teilen falsch und in äußerungsrechtlicher Hinsicht nur schwer nachvollziehbar. Sie sendet nicht nur falsche Signale in Richtung der Gesellschaft, sondern wendet die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien zur Abgrenzung zwischen zulässiger Meinungsäußerung und rechtswidriger Schmähkritik auch fehlerhaft an. Unsere Erfahrung ist, dass Meinungsäußerungen vom Landgericht Berlin nicht differenziert genug betrachtet und viel zu oft als per se zulässig erachtet werden. Die vorliegende Entscheidung ist grundlegend falsch.
Kanzlei Geßner, Berlin /Link/

Leider haben die Richter am LG u. E. damit die Gelegenheit verstreichen lassen, zu klären, dass im digitalen Netz dieselben Regeln (Gesetze) zu gelten haben, wie im realen Zusammenleben. Wie schon in unserem Artikel „Wege in die Zukunft (Teil 2a)“ dargelegt wurde, gelten die Gesetze § 185 StGB und folgende unabhängig davon, ob die Straftat im oder außerhalb des Internets erfolgt. Zwar sollten auch deftige, überzogene und unbegründete Meinungsäußerungen durch die Meinungsfreiheit (Art 5 Grundgesetz) abgedeckt sein, Beschimpfungen, Beleidigung, Drohungen, üble Nachrede usw. gehören u. E. jedoch nicht dazu. Es sollte auch nicht sein, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, wie z. B. Politiker, Beamte und Helfer, mehr beschimpft werden dürfen als andere Personen.

Es ist schon absurd, wenn das „Vogel zeigen“ u. ä. eines Autofahrers - auch wenn er vorher gefährdet worden ist - als Beleidigung nach § 185 StGB bestraft wird, aber Beleidigungen im Netz nicht als solche gesehen werden. Während „Drecksau“ einen Autofahrer 1000 Euro gekostet hatte /Link/, stellten „Ferck du Drecksau“ und „Sie alte perverse Drecksau!!!!!“ laut Beschluss des LG Berlin vom 09.09.2019 wegen des Kontextes keine Beleidigungen der Frau Künast dar. - Auch Autofahrer mit ihren Schimpftiraden werden jeweils einen Anlass gehabt haben.

Überall wo viele Personen beginnen, zusammen zu kommen, um etwas (gemeinsam) zu unternehmen, wird der Staat erst einmal versuchen, mit bestehenden Gesetzen auszukommen. In vielen Fällen wird das aber auf Dauer nicht funktionieren und es müssen Gesetze oder Regeln entsprechend ergänzt bzw. angepasst werden. Beispiele sind: Straßenverkehrsordnung, Regeln für Skipisten und Verhalten in Fußballstadien, auf Festivals usw..

Inzwischen ist das digitale Netz so umfassend geworden, dass auch hier Gesetze und deren Kontrolle dringend erforderlich geworden sind. Die Gesetze dürfen aber nicht allein von der Internetindustrie zu ihrem Nutzen geschaffen werden. Es zeigt sich immer deutlicher, dass - entgegen dem Wunsch vieler Internet-Pioniere - das digitale Netz kein Freiraum mehr sein kann/darf.
Für unser gesellschaftliches Zusammenleben ist das Netz nun weltweit sehr wichtig geworden, das wird gerade jetzt in Zeiten der Krise überaus deutlich. Wir alle - insbesondere auch wir Genossen - müssen daher wachsam sein, dass diese wichtige Ressource nicht durch Falschmeldungen, Pöbeleien, Hasstiraden und kriminelle Äußerungen, Bilder und Handlungen missbraucht und/oder „verstopft“ werden darf.

Zur IP-Adresse: Jeder PC, der ans digitale Netz angeschlossen wird, erhält eine eigene Nummer als IP-Adresse. Bisher gilt dafür der Standard IPv4. Mit IPv4 stehen praktisch nur ca. 3,7 Milliarden IP-Adressen (also Nummern) für alle in der ganzen Welt am Netz angeschlossenen PCs zur Verfügung und das reichte nicht mehr aus. Die Provider behalfen sich damit, dem PC für das Internet nur dann eine momentan freie IP-Nummer zuzuteilen, wenn er gerade genutzt wird und diese Zuordnung für eine Weile zu speichern. Wie oben erwähnt, kann - wie möglicherweise auch im Fall Künast - die Ermittlung der einem PC zugeordneten IP-Nummer als Adresse nicht mehr möglich sein, weil inzwischen die Speicherung der früheren Zuordnung PC und IP-Adresse vom Provider gelöscht wurde, wozu er unseres Wissens sogar gesetzlich verpflichtet war.
Inzwischen läuft weitgehend unbemerkt von den Nutzern die Umstellung der IP-Adressen auf den Standard IPv6. Dann gibt es genügend freie Nummern, so dass jedem PC dauerhaft fest eine IP-Adresse zugeordnet wird. Positiv gesehen, bedeutet das, dass in Zukunft, wenn die (neue) IP-Adresse für einen PC bekannt ist, auch dieser PC leichter ermittelt werden kann. Negativ gesehen bedeutet das, dass mehr Schaden entstehen kann, wenn eine solche Liste in falsche Hände gerät oder ein Staat seine Bürger ausspionieren will.
Wie dem auch sei, für Cyberpolizei und Staatsanwaltschaft wird dadurch die Arbeit ein wenig einfacher. - Evtl. können im Fall Künast die betreffenden Nutzer über ihre jeweilige E-Mail-Adresse ermittelt werden.

Der Fall Künast zeigt eindringlich, dass die Rechtsprechung für das digitale Netz ihre Schwierigkeiten hat. Im Unterschied dazu hat die Politik erkannt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

Wir begrüßen es sehr, dass unsere Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) einige Gesetze bzw. Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht hat, damit betroffene Nutzer Hasskommentare, Drohungen usw. in den sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram schneller und einfacher löschen lassen können.
Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in der Fassung von 2017 /Link1/, /Link2/.
Zwei Links zu Pro und Contra des NetzDG: /Link1/, /Link2/.
Das überarbeitete NetzDG wird gerade im Kabinett beschlossen.
06.04.2020 r, am 10.04.2020 leicht überarbeitet

 

Nachtrag vom 03.02.2022

Frau Künast hatte gegen Beschlüsse des Kammergerichts und gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin erfolgreich Verfassungsbeschwerde eingereicht. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am 19.12.2021 einstimmig beschlossen, dass alle Beschlüsse der o. g. Gerichte, die zum Nachteil von Frau Künast waren, aufgehoben werden, weil sie die Grundrechte der Frau Künast verletzt haben (Aktenzeichen: 1 BvR 1073/20 /Link/ , Pressemitteilung Nr. 8/2022 vom 2. Februar 2022 /Link/).
Damit hat aus unserer Sicht das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass Hetze, Beleidigungen und Bedrohungen im Netz nicht wegen der Meinungsfreiheit erlaubt sind. Diese Einsicht hätten u. E. die Richter an den o. g. Gerichten Berlins auch schon vorher haben müssen.

Wir freuen uns mit Frau Künast, dass jetzt doch noch die Rechtstaatlichkeit gesiegt hat. Allerdings kann der juristische Weg für Frau Künast noch lang und nervenaufreibend werden, bis sie das Recht möglicherweise auch für sich durchsetzen wird.
03.02.2022 r

 

Nachtrag vom 19.11.2022

Frau Künast (Grüne) hat endlich doch vom Berliner Kammergericht, das den Fall neu behandeln musste, in allen Fällen Recht bekommen. Wir freuen uns für sie. Kläglich ist u. E., dass das Bundesverfassungsgericht Richtern des Berliner Kammergerichts erst erklären musste, dass Politiker und Politikerinnen genauso wenig wie andere Menschen mit üblen Schimpfworten belegt werden dürfen /Link/.
03.02.2022 r

 

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