Zum Entwurf des neuen Grundsatzprogramms

Bundespolitik

Die SPD ist die einzige politische Partei, die schon seit über 130 Jahren ein Grundsatzprogramm hat (erste Programm: Eisenacher Programm 1869). Das letzte, noch aktuelle Grundsatzprogramm wurde 1989 vom Bundesparteitag in Berlin verabschiedet und wird deshalb „Berliner Programm“ genannt. Wegen der großen gesellschaftlichen Änderungen sollte das „Berliner Programm“ völlig überarbeitet werden.

Zwischenzeitlich ist der „Bremer Entwurf“ fertig gestellt worden und kann als pdf-Datei heruntergeladen oder direkt im Internet gelesen werden. Er soll jetzt in der Partei diskutiert und dann auf dem Bundesparteitag der SPD in Hamburg vom 26. bis 28. Oktober 2007 beraten werden.

(Nachtrag vom 20.04.2009: Der Bremer Entwurf ist offenbar nicht mehr verfügbar. Der Entwurf ist nach vielen Änderungen als neues Grundsatzprogramm der SPD, als das „Hamburger Programm“ /Link, pdf-Datei/ (Kurzfassung /Link, pdf-Datei/) beschlossen worden.)

Es zeigt sich, dass es sich bei dem Entwurf nicht - wie viele Parteimitglieder glaubten - um die Weiterentwicklung des Berlinerprogramms (pdf-Datei) handelt, sondern um die des Schröder-Papiers.

Die Aussagen im neuen Programmentwurf scheinen weitgehend zutreffend zu sein und die dort genannten Ziele sind gut und erstrebenswert. Die einzelnen Ausführungen sind unserer Ansicht nach jedoch viel zu lang und oft auch nicht konkret genug. Der Entwurf vermittelt in weiten Teilen den Eindruck, dass 65 Seiten mit Rhetorik gefüllt und dabei fast allen Sachaussagen, an denen die Partei gemessen werden könnte, aus dem Wege gegangen wird.

Hier nur wenige Kritikpunkte als Beispiele:

Im Kap. 4.3 wird betont, wie wichtig das Engagement der Bürger ist, und dann heißt es „In gesetzlich festzulegenden Grenzen sollen Volksbegehren und Volksentscheid in Gemeinden, Ländern und Bund parlamentarische Entscheidung ergänzen.“. Die SPD sollte hier fordern, dass die „gesetzlich festzulegenden Grenzen“ nicht dazu benutzt werden dürfen, das Engagement der Bürger abzuwürgen.

Seit geraumer Zeit herrscht in Deutschland der Eindruck, dass irgendwo im Regierungsapparat die Gesetze gemacht werden und diese dann in den Parlamenten von zum Teil ahnungslosen Abgeordneten abgenickt werden, sodass es eigentlich egal ist, welcher Partei man seine Stimme gibt oder ob man zu Wahlen überhaupt nicht mehr hingeht.

Regt sich Protest von unten, heißt es von oben: „Wir müssen das den Menschen im Land richtig erklären“, z. B. dass 0+2=3 (Mehrwertsteuererhöhung) ist. Die Politiker werden unglaubwürdig, wenn sie direkt nach Wahlen ihre Wahlversprechen so krass brechen. Für die Parteibasis gilt offenbar: „Kleben, Kreuzchen machen und kuschen“ und für die, die nach oben gelangt sind: „Handeln (oft) ohne Rücksicht auf die Basis.

Im Entwurf findet man kaum konkrete Ausführungen, wie das geändert werden soll. Beispielsweise sollte es möglich sein, dass sich jedes Parteimitglied an der Willensbildung im Staat beteiligen kann. Eine Maßnahme wäre, dass alle Politiker und Funktionsträger in geheimer Wahl von den Parteimitgliedern zu wählen sind.

Im Entwurf ist oft die Rede von „Soziale Demokratie“, so als ob die SPD ihr Verhältnis zur Demokratie gar nicht so genau definieren möchte. Wichtiger als das neue Schlagwort „Soziale Demokratie“ wären klare und eindeutige Ausführungen, wie die Demokratie aussehen soll. Unabhängig davon sollte die SPD dann ihre Forderungen an die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland darlegen. Der Bürger möchte wissen, wie Renten-, Arbeitslosen, Pflege- und Krankenversicherung gestaltet werden sollen und wie der Staat für die Familien oder Lebensgemeinschaften, Kinder, Jugendlichen und Alten sorgen soll.

Im Entwurf ist zu viel die Rede von Europa und zu wenig von Deutschland. Wir Sozialdemokraten setzen voll auf die EU, aber dennoch müssen wir in Deutschland unsere eigenen Probleme lösen (z. B. die Gesundheitsreform).

Die Wörter „Föderalismus“, „Gewaltenteilung“, „Justiz“ kommen im Entwurf erst gar nicht mehr vor, es könnte sonst zu konkret werden; das Wort „Subvention“ nur im Zusammenhang mit dem Welthandel oder der EU. Das Berliner Programm hat offenbar in den Augen der SPD-Führung den Fehler, dass manches darin zu konkret (wenn auch nicht immer richtig) ist und bei den Entscheidungsträgern angemahnt werden könnte.

Warum steht im Entwurf nicht sinngemäß: „Das Parlament ist verantwortlich für die Gesetzgebung und das Petitionswesen. Die Abgeordneten halten dazu Kontakt zu der Parteibasis, den Parteigremien, der Regierung, zu unabhängigen Fachleuten (Institute) und ggf. zu Interessensvertretern. Die Abgeordneten beschließen dann die Gesetze, ohne an Vorgaben gebunden zu sein. Die Abgeordnetentätigkeit ist ein Vollzeitjob und entsprechend zu vergüten. Die Abgeordneten vermeiden alles, was ihre Unabhängigkeit gefährden oder zu Interessenskollisionen führen könnte. Sie nehmen deshalb keine Spenden, Beraterverträge, Aufsichtsratsposten und neue Klienten o. ä. an. Zumindest legen die Abgeordneten alle Zuwendungen offen, die in Verbindung mit ihrer Abgeordnetentätigkeit gebracht werden könnten.“?

Auch eine Aussage wie: „SPD-Mitglieder, insbesondere die Mandatsträger sind an das Grundgesetz und an die von Deutschland unterschriebenen Menschenrechtskonventionen gebunden und setzen sich für deren Umsetzung ein.“ sucht man in dem Entwurf vergeblich.

Auf Seite 12 des Entwurfs steht: „Für eine wirklich gerechte Gesellschaft reicht die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz nicht aus. Gerechtigkeit verlangt vielmehr, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu entfalten.“ - Offenbar haben die Autoren des Entwurfes hier schon ganz abgehoben. Der Satz klingt so, als wäre die Gleichheit vor dem Gesetz bereits erreicht. Die Gleichheit vor dem Gesetz muss ebenso gewichtet und angestrebt werden wie die Chancengleichheit. Unsere Partei sollte sich für beides gleichermaßen einsetzen!
Gleichheit vor dem Gesetz: Da in Deutschland häufiger nicht faire Gerichtsverfahren stattfinden, die mit einem Fehlurteil enden, wäre es wichtig, im Grundsatzprogramm zumindest zu fordern, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass alle Gerichtsverfahren möglichst fair und gerecht durchgeführt werden. - Während sich der Entwurf über die Justiz in Deutschland ausschweigt, wird darin jedoch eine internationale Gerichtsbarkeit gefordert.
Chancengleichheit: Unabhängig von der Rechtspflege sollten sich Sozialdemokraten dafür einsetzten, dass alle Menschen die Chance erhalten, ein Leben gemäß ihrer Fähigkeiten zu gestalten. - Wir glauben, dass die Chancengleichheit im Entwurf in ausreichendem Maße gefordert wird.

Aus aktuellem Anlass müsste im Entwurf weiterhin sinngemäß stehen: „Wir (= die Sozialdemokraten) achten das Grundgesetz und die demokratischen Formen wie die Gewaltenteilung. Wir werden die Verfassung (das Grundgesetz) nicht aus fiskalischen Gründen ändern, sondern nur, um dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung zu tragen.

Die letzten Diskussionen um Bundeswehreinsätze und die Forderung unseres Bundesinnenministers Schäuble, dass die Bundeswehr auch im Inland eingesetzt werden darf, zeigen, dass hier die SPD klar Stellung beziehen muss. Z. B. könnte im neuen Grundsatzprogramm sinngemäß stehen: „Wir fordern, dass jeder Bundeswehreinsatz vom Parlament genehmigt wird. Wir verlangen, dass die Bundeswehr auch weiterhin innerhalb Deutschlands nur so weit eingesetzt wird, wie es das Grundgesetz zulässt (Art. 87a) oder es handelt sich um eine humanitäre Hilfeleistung (bei Katastrophen). Einer Grundgesetzänderung, die einen weitergehenden Bundeswehreinsatz (insbesondere mit Waffen) im Inland zulässt, werden wir nicht ohne weiteres zustimmen. Eine Voraussetzung für eine Zustimmung wäre, dass die Aufgaben der Bundeswehr neu definiert werden und die Struktur der Bundeswehr personell (einschließlich einer geänderten Ausbildung) und materiell der neuen Aufgabe angepasst wird und das Parlament die vollständige Kontrolle über jeden Einsatz der Bundeswehr behält.

Positiv ist dazu anzumerken, dass sich im Entwurf gegen jeden Angriffskrieg ausgesprochen wird (im Einklang mit Art. 26 Abs.1 des Grundgesetzes). Dies ist voll zu unterstützen. Wir sehen gerade am Beispiel Irak, wohin so ein Krieg führen kann.

Schon die wenigen Beispiele zeigen, dass der Programmentwurf noch sehr überarbeitungsbedürftig ist.

Darum schlagen wir vor, den Programmentwurf gründlich und umfassend zu überarbeiten und in Anlehnung an das Berliner Programm zu konkretisieren, dann den überarbeiteten Entwurf Anfang Herbst 2007 nochmals zur Diskussion in der Partei freizugeben und ihn frühestens Ende 2008 zu verabschieden.
Für die Meinungsbildung in der Partei (einschließlich der Basis) sollte mindestens ein Jahr angesetzt werden. Die Ortsvereine treffen sich teilweise nur vierteljährlich, da braucht die Meinungsbildung sehr lange; zumal die Parteimitglieder auch noch andere Sorgen haben und sich nur ehrenamtlich engagieren können. Die Parteiarbeit lastet sowieso nur noch auf den Schultern weniger, denn die meisten wollen ohnehin nichts mehr davon wissen.

Im jetzigen Zustand scheint uns der Entwurf als neues Grundsatzprogramm nicht brauchbar zu sein. Wahrscheinlich wird er von den meisten nicht einmal gelesen. (Letzte Änderung am 28.01.2007)
18.01.2007 mr

 

Leserbrief, erhalten am 11.05.2007

Lieber Genosse Kurt Beck,
lieber Genosse Hubertus Heil,

ich vermisse im Entwurf eine Erklärung zum Rechtsstaat, wie sie noch im Berliner Programm von 1989 (Recht und Politik) enthalten war. Dort war mit Recht zu lesen: „Schaden erleidet der Rechtsstaat nicht nur durch Rechtsverstöße einzelner Bürger, sondern auch durch staatlichen Machtmissbrauch.“

Es gibt in der Bevölkerung eine große Unzufriedenheit mit der Rechtsprechung. Der Bürger/die Bürgerin hat sehr oft die begründete Annahme, dass sein/ihr Anliegen von der Rechtsprechung nicht korrekt behandelt wird bzw. wurde. Der ehemalige Richter am Oberlandesgericht Köln, Dr. Egon Schneider, schreibt in der Zeitschrift für die Anwaltspraxis, dass er von Rechtsanwälten so viele Berichte über gesetzwidrige Entscheidungen von Gerichten erhalten hat und noch erhält, dass es fast möglich ist, eine „Zeitschrift für Justizunrecht“ zu füllen (ZAP vom 24.3.1999, Seite 266). Als weitere Belege weise ich auf die FAZ vom 28.5.1999 „Staatsverstärkte Kriminalität“ und der Pressemitteilung Nr. 2 – 3/2002 des Vereins gegen Rechtsmissbrauch e.V., Frankfurt, „Gesetzwidrige Einschränkung wesentlichen Richterrechts durch den Bundesgerichtshof“ hin, die beigefügt sind.

Ich meine, dass der Entwurf die Rechtsprechung nicht auslassen darf, da sie eine der drei Gewalten unseres Landes ist. Der Rechtsstaat, bzw. die Rechtsprechung, hat fundamentale Bedeutung für das Leben eines jeden Bürgers/einer jeden Bürgerin. Ich empfehle daher, dass bei erneuter Befassung mit dem Bremer Entwurf ein Passus zum Rechtsstaat eingefügt wird.

Ich bin seit 1962 SPD-Mitglied. Ich bitte Euch, mir mitzuteilen, ob meine Anregung aufgegriffen wird.

Mit freundlichen Grüßen
Horst Trieflinger

Anmerkung der Redaktion: Der Leserbrief ging am 11.05.2007 bei uns ein und wurde am 06.11.2018 hierher verschoben.
Wie uns Genosse Horst Trieflinger mitgeteilte, wurde dieser Brief bisher nicht beantwortet.

 
 

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