Erhöhtes Leukämie-Risiko in der Nähe von Kernkraftwerken?

(Mit Nachträgen vom 26.03.2011 und 24.09.2011)

Es werden immer wieder Studien zitiert, die angeblich ein erhöhtes Leukämie-Risiko in der Nähe von Kernkraftwerken (AKWs) nachgewiesen hätten. So hat sich kürzlich ein Vertreter einer Naturschutzorganisation in einer Fernsehsendung auf Grund der nachfolgend diskutierten Studie zu der Behauptung hinreißen lassen, dass jemand, der die Weiterbetreibung der AKWs befürworte, den Tod von Menschen in Kauf nehme.

Die Studie der Epi.Consult Gmbh vom 01.09.2009, die von der Bundesfraktion Bündnis 90/Die Grünen in Auftrag gegeben wurde, kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass das Risiko für Kinder von 0 bis 14 Jahren, an Leukämie zu erkranken, in der Nähe von Kernkraftwerken um 13 % erhöht sei /Link/ (pdf-Datei, 253 KB). Für andere Altersbereiche wurde ebenfalls eine Erhöhung des Risikos gefunden. Laut Studie bedeuten diese Ergebnisse eine „statistisch signifikante Erhöhungen des Leukämie-Risikos“. „Signifikant“ heißt, die angegebenen Erhöhungen sind größer als mögliche statistische Abweichungen und damit wäre das Risiko wirklich vorhanden.

Wenn das so stimmen würde, müsste man dieser Sache nachgehen.

Wir sind aber der Ansicht, dass sich aus dieser Studie kein Hinweis für eine tatsächliche Erhöhung des Leukämie-Risikos in der Umgebung deutscher AKWs ergibt.

Um das zu zeigen, wollen wir uns im Folgenden nicht darum kümmern, wie die Zahlenbasis in der o. g. Studie zustande gekommen ist, sondern einfach die Einzelergebnisse interpretieren, wie sie in Tabelle 9 auf den Seiten 27 bis 29 der Studie angegeben sind. In dieser Tabelle sind 80 AKWs aufgelistet, deren jeweilige Umgebung auf Leukämiefälle für Kinder zwischen 0 und 14 Jahren untersucht wurde. Darunter fallen auch alle deutschen AKWs.

Aus dieser Tabelle 9 entnimmt man z. B., dass in der Umgebung des AKWs Biblis 32 Fälle beobachtet wurden, aber nur 30,19 Fälle (Durchschnittswert) erwartet wurden. Daraus wurde ein SIR von 32/30,19=1,06 berechnet, d. h. ein um 6 % erhöhtes Risiko. Aus der Tabelle entnimmt man weiterhin, dass der 95%-Vertrauensbereich zwischen 0,73 und 1,50 liegt.

Bei der Auswertung einer Statistik muss berücksichtigt werden, dass sie im Allgemeinen keine exakten Aussagen, sondern nur Werte innerhalb eines bestimmten Bereichs liefert. Für das Beispiel Biblis haben wir der Tabelle eine Erhöhung für das Leukämie-Risiko von 6 % entnommen. Wir wollen nun aber wissen, ob das Leukämie-Risiko beim AKW Biblis auch in Wirklichkeit erhöht ist oder nicht. Zur Beantwortung dieser Frage muss man auf den Vertrauensbereich zurückgreifen. Dazu machen Statistiker die Annahme, dass der tatsächliche Wert innerhalb des 95%-Vertrauensbereichs liegt. Im Fall des AKWs Biblis liegt SIR=1,06 zwischen den Werten 0,73 und 1,50 (s. o.). Das bedeutet, die Statistik macht hier keine Aussage darüber, ob das Leukämierisiko in der Nähe dieses AKWs nicht auch SIR=0,73 oder SIR=1,50 oder SIR=1,00 sein könnte, d. h. bis 27 % kleiner oder bis zu 50 % größer geworden ist oder ob es sich überhaupt nicht geändert hat. Dass die Statistik hier nur so grobe Aussagen liefert, liegt hier – Gott sei Dank – an der für eine statistische Auswertung geringen Anzahl der Erkrankungen überhaupt („nur“ 32 Fälle).

Betrachtet man die Zahlen für die anderen 14 untersuchten, deutschen AKWs, so findet man ähnliche Ergebnisse: Es gibt keinen Beweis dafür, dass in der Nähe eines deutschen AKWs das Leukämie-Risiko erhöht ist. Selbst bei den beiden „Ausreißern“ AKW Krümmel und Obrigheim liegt die untere Grenze des 95%-Vertrauensbereichs deutlich unter 1. Bei manchen AKWs wie Brokdorf und Brunsbüttel könnte man sogar denken, dass das Risiko abgenommen habe, da hier der SIR-Wert kleiner als 1 ist. Allerdings ist auch hier wegen der hohen statistischen Abweichung (siehe die Zahlen für den 95%-Vertrauensbereich) keine sichere Aussage möglich.

Allerdings muss man auch klar sagen, dass die Studie keinen Nachweis dafür liefert, dass durch die deutschen AKWs das Leukämierisiko nicht erhöht wird. Anderseits liefert die Studie auch keinen Nachweis dafür, dass deutsche AKWs das Leukämie-Risiko erhöhen (was offenbar die Studie zeigen sollte).

Eine ähnliche Aussage gilt auch für die meisten der untersuchten AKWs in Canada, Frankreich (FR), England und den USA (US).

Nur für die jeweilige Umgebung des AKWs Chinon (FR) , des AKWs Diablo Canyon 1-2 (US), der AKWs Dresden 1-3 / Braidwood 1-2 / La Salle (alle drei US), des AKWs Millstone 1-3 (US), des AKWs San Onofre 1-3 (US), des AKWs Turkey Point (US) und des AKWs Zion (US) wurden signifikant erhöhte Werte festgestellt. Dabei fallen die Zahlen für die drei zuletzt genannten AKWs so sehr aus dem Rahmen, dass hier u. E. detaillierte Untersuchungen erforderlich wären. Und auch für die Zahlen des AKWs Rancho Seco muss es u. E. eine andere Ursache geben. Man sollte für diese AKWs eine getrennte Untersuchung durchführen und sie aus dieser Statistik nehmen, da hier vermutlich Sonderfälle vorliegen.

In der Fachwelt gibt es auch Bedenken zu der in dieser Studie verwendeten Methodik /Link/.
Da die Erkrankung an Leukämie von Kindern unter 15 Jahren doch relativ selten ist (ca. 5 Neu-Erkrankungen pro Jahr und 100 000 Kinder), sind Statistiken darüber nur mit großem Aufwand durchzuführen und mit großen statistischen Abweichungen behaftet. Dies gilt z. B. auch für diese und für frühere Studien, wie die häufiger zitierte KiKK-Studie /Link/ (pdf-Datei, 7.5 MB). Die KiKK-Studie kommt zum Ergebnis, dass das Risiko für 0 bis 5 Jährige, an Leukämie zu erkranken, in der Nähe von AKWs geringfügig erhöht sei. Allerdings schließen die Autoren nicht aus, dass das auch auf Zufall beruhen könnte. Der Versuch der Autoren der KiKK-Studie, andere Ursachen für die Kinderleukämie zu finden, ist an der mangelnden Mitarbeit der Bevölkerung (Misstrauen) gescheitert. An der radioaktiven Strahlung, die von AKWs nach außen gelangt, kann es nicht liegen, da diese im Vergleich zur natürlichen Strahlung viel zu gering ist. - Ein weiterer Gesichtspunkt, der in solchen Studien kaum berücksichtigt wird, ist, dass die Leukämiefälle nicht gleichmäßig über Deutschland verteilt sind, sondern an vielen Stellen gehäuft vorkommen und zwar auch an Stellen, wo kein AKW in der Nähe ist (/Link/ Klicke „Jahresberichte und Methodik“ und dort „Jahresbericht 2009“ und dort „Systematische Darstellung epidemiologischer Kenngrößen nach ICCC-3-Diagnosen*)“ an, Achtung, die pdf-Datei ist über 16 MB groß). Unserer bescheidenen Ansicht nach müssen andere Ursachen für Kinderleukämie vorlegen.

Zusammenfassend sind wir der Ansicht, dass die Studie keinen Beleg dafür liefert, dass das Leukämie-Risiko für Kinder zwischen 0 und 14 Jahren, in der Nähe von AKWs erhöht ist, zumindest nicht in der Umgebung deutscher AKWs.

Zur Plausibilitätskontrolle haben wir die tatsächlich an Leukämie erkrankten Kinder unter 15 Jahren und die erwarteten Leukämiefälle für die deutschen AKWs in Tabelle 9 der Epi.Consult Gmbh- Studie zusammengezählt: Es sind 267 tatsächliche Erkrankungen, erwartet wurden 271,1 Fälle (Durchschnittswert). Für uns ist hier keine Erhöhung des Risikos bei den – für uns relevanten – deutschen AKWs erkennbar. Aus der Studie ist nicht ersichtlich, welche Berechnungsmethoden bzw. Wichtung der Einzelwerte zur Ermittlung der gepoolten Werte verwendet wurden, die ein erhöhtes Risiko für AKWs begründen könnten.
Wir halten Angst- und Panikmache mit falschen Argumenten für unverantwortlich. 08.11.2010 gr

Nachtrag vom 26.03.2011:

In der Epi.Consult-Studie /Link/ vom 01.09.2009 wurde (angeblich) nachgewiesen, dass in der Nähe von AKWs für Kinder ein erhöhtes Risiko bestehe, an Leukämie zu erkranken. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Ergebnisse in der o. g. Studie nicht stimmen und zusätzlich noch methodische Fehler vorliegen, so dass die Studie nicht brauchbar ist. – Aus diesem Grund hatten wir am 08.11.2010 den Autor Prof. Dr. med. Greiser schriftlich gebeten, uns die in der Studie verwendete Methode näher zu erläutern. Da wir keine Antwort erhielten, fragten wir am 05.12.2010 und 12.01.2011 per E-Mail beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) an und erhielten ebenfalls bisher keine Antwort.

Wir haben inzwischen selbst versucht, die Tabellen 4 bis 9 aus der Studie auszuwerten. Unser Ergebnis haben wir in folgender Tabelle zusammengestellt:

Tab.
Nr.
Unsere Rechnung Epi.Consult-Studie
 SIR  95%-Vertrauensber.  SIR  95%-Vertrauensber.
4* 1.06 (0.17 - 1.95) 1.19 (1.13 - 1.25)
5 1.02 (0.09 - 1.95) 1.14 (1.05 - 1.25)
6 1.09 (0.02 - 2.15) 1.24 (1.12 - 1.37)
7 1.03 (0.** - 2.09) 1.20 (1.08 - 1.33)
8 0.99 (0.** - 2.10) 1.22 (1.08 - 1.36)
9 1.03 (0.22 - 1.84) 1.13 (1.10 – 1.17)
9a 0.98 (0.58 - 1.39) -- --

Tab. Nr. 9a: Ergebnis nur für die deutschen AKWs aus Tabelle 9
* Bei Tab. Nr. 4 wurde die dritte Zeile (Fall DE) nicht berücksichtigt, da hier wohl das Ergebnis der KiKK-Studie eingeflossen ist.
** Es ergab sich rechnerisch ein negativer Wert

SIR ( Standardized Incidence Ratio) ist der Quotient von beobachteter und erwarteter Erkrankungszahl, wobei die erwarteten Werte aus der Zahl der Einwohner in der untersuchten Region und den landesweiten Erkrankungsraten berechnet werden. Man erkennt, dass die hier berechneten (gepoolten) SIR-Werte wesentlich kleiner sind als die in der Studie ausgewiesenen Werte. Für die deutschen AKWs (9a) liegt der Wert sogar unterhalb von 1.00, d. h. es sieht so aus, als ob das Risiko für Leukämie in der Nähe eines deutschen AKWs im Durchschnitt kleiner ist als an einem Ort weiter weg. Außerdem sind in allen Fällen die Vertrauensbereiche wesentlich größer als die in der Studie ausgewiesenen. Das bedeutet, aus den Tabellen 4 bis 9 der o. g. Studie kann man nicht entnehmen, dass in der Nähe eines AKWs das Risiko, an Leukämie zu erkranken, größer ist.

Da uns keine Informationen vorlagen und wir keine Statistiker sind, können unsere Berechnungen - insbesondere die Vertrauensbereiche – evtl. nicht korrekt durchgeführt worden sein. Aber selbst wenn man die u. E. zu kleinen Vertrauensbereiche aus der Studie übernimmt, liefert die Studie kein Anzeichen dafür, dass in der Nähe von AKWs – zumindest der deutschen AKWs – ein erhöhtes Leukämie-Risiko besteht.

Die hier verwendeten Rechenmethoden können Sie dem Download (pdf-Datei, 624 KB) entnehmen.
26.03.2011 gr

 

Nachtrag vom 24.09.2011

Unsere vor einem dreiviertel Jahr an Umweltminister Röttgen (CDU) und an das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) gerichtete Anfrage bezüglich der in der Studie der Epi.Consult GmbH zur Leukämie bei Kindern verwendeten Rechenmethode blieb bisher unbeantwortet. Daher müssen wir daraus schließen, dass unsere kritischen Einwände berechtigt sind und die Studie offensichtlich fehlerhaft ist. Leukämie ist eine sehr schlimme Krankheit, sodass Umweltverbände und Parteien darauf verzichten sollten, mit fehlerhaften Gutachten oder Auftragsstudien die Menschen zu verunsichern, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie wecken dadurch Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.
Die Redaktion

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